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HELAGS /JÄMTLAND

Storsand

Auf den südlichsten Gletscher Schwedens

Der Helags ist mit seinen 1797 m der höchste Berg Schwedens südlich von Lappland. Ausserdem schmückt er sich mit einem wenn auch kleinen, so doch malerischen Gletscher. Der Helags liegt im Jämtlandsfjäll in der gleichnamigen Provinz Jämtland-Härjedalen mit so bekannten Namen wie Åre, Storlien, Sylarna, Flatruet oder Ljungdalen und Funäsdalen.

Wanderwege durchziehen das gesamte Gebiet, und die Ortschaft Ljungdalen ist als Eingangspunkt vom Süden her bei den Wanderfreunden beliebt. Andere Ausgangsorte vor allem für Wanderer, die mit der Bahn anreisen, ist Enafors, knapp vor Storlien. Beide sind mit dem Nachtzug einfach von Stockholm aus zu erreichen.

Überhaupt macht die Nähe zu Schwedens dichtest besiedeltem Gebiet - Stockholm und das Mälartal - den Helags und das Jämtlandsfjäll im Sommer zu einem der beliebtesten Wanderziele. Dreitageswanderungen sind gang und gebe und kein anderes Fjällgebiet Schwedens ist so dicht bewandert wie die Strecke Helags - Sylarna - Gåsen - Helags.

Das hat gute Gründe. Nicht nur die Nähe, sondern vor allem die relativ gute Orientierungsmöglichkeit, das einfache Gelände und die beeindruckende Gebirgskulisse haben dieses Gebiet zu einer beliebten Urlaubsregion werden lassen.

Also auch etwas für einen weithergereisten Gast, der das Fjäll kennenlernen will, ohne dafür gleich die halbe Reisekasse für die Anreise zu verwenden. Ausserdem hat das Jämtlandsfjäll noch den Vorteil, dass man so gut wie von jedem Punkt nach einem Tag wieder "draussen" ist, also im nächstgelegenen Ort mit Campingplatz und Pension.

Die Anreise verläuft, wie so oft, wenn es um die Zufahrt zum Fjäll geht, am besten auf der Inlandsstrasse. Also Reichsstrasse 45 wenn man von Göteborg kommt oder von Malmö ab Örebro auf der Reichstrasse 70 bis Orsa und dann weiter auf der 45 nach Åsarna. Diese Strecke ist auch für einen, der oft und viel unterwegs ist, immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis und schenkt die Möglichkeit, sich seelisch und geistig auf den Norden einzustimmen.

Ausserdem lässt die schwedische Gelassenheit auf den Strassen reichlich Zeit und Musse, sich an der Umgebung zu erfreuen, an den vielen Seen, den Wäldern, die stundenlang die Strasse säumen, den malerischen kleinen Orten wie Rättvik oder Mora und der ersten Einsamkeit.

In Storsand, sei jedem Autofahrer eine Rast am gleichnamigen See empfohlen. Hier wurde vom Vägverket auch einer der leider viel zu seltenen Rastplätze angelegt. Der Blick über den See und die kleine Insel ist zu jeder Tageszeit, aber vor allem am frühen Morgen, ein Genuss der Sonderklasse.

IM ÅSARNA SKICENTER

In Åsarna angekommen, ist es meistens Abend geworden und das passt ausgezeichnet, denn gleich nach der Einfahrt in den kleinen Ort liegt rechterhand das Åsarna Skicenter (Tel. +46 687 301 93) mit kleinem Restaurant, Touristeninfo, einem Kleiderladen, in dem man bei Outdoorbekleidung so manches Schnäppchen machen kann, wenn man zum richtigen Zeitpunkt kommt.

Und dann gibt es noch die Jugendherberge. Oder wie das auf schwedisch so schön heisst, ein "Wandererheim". Letztere Bezeichnung ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig, doch fühle ich mich jedesmal persönlich angesprochen, wenn ich in so einer Herberge über Nacht Quartier nehme. Es ist nicht so steril wie ein Hotel, nicht gar so anstrengend wie ein Campingplatz mit Zeltaufstellen, und minutenlangem Laufen zu den Duschgelegenheiten, sondern ein solches Heim für Wanderer hat Zimmer mit zwei Stockbetten, eine Küche und einen Aufenthaltsraum.

Ljunganfluss, Foto: Uli WieserIn Åsarna ist das nicht anders. Die Anmeldung erfolgt in der Rezeption, wo man auch Karten über die Gegend kriegt, oder Broschüren über die zahlreichen Ausflugsmöglichkeiten. Es ist unglaublich, was es in einem so unscheinbaren Ort alles zu sehen gibt, von der Kirche übers Plumpsklomuseum zu einer der ältesten Steinbrücken Schwedens, gar nicht zu reden von der Strasse den Ljunganfluss entlang Richtung Westen.

Åsarna liegt ungefähr auf halbem Weg, wenn es nach Lappland geht, und eignet sich daher ideal für die erste Übernachtung auf schwedischem Boden. Kostenpunkt? SEK 250.-, für Mitglieder im STF oder DAV SEK150.- pro Person. Billiger geht es nicht.

VOM ÄLPLERISCHEN EHRGEIZ

Der Helags ist für mich kein unbeschriebenes Blatt. Ich habe mit zwei Wanderkameraden, die ich am Kebnekaise getroffen hatte, lose Kontakt gehalten und sie hatten mir den Helags für eine gemeinsame Wanderung vorgeschlagen. Aus irgendeinem Grund hatten sich die Pläne dann zerschlagen, das heisst, die beiden waren allein aufgebrochen und waren begeistert zurückgekommen.

"Sooo schön, sooo leicht zu gehen und sooo ein nettes Wirtshaus in Ljungdalen," hatten sie mir vorgeschwärmt. Natürlich weiss ich, dass es eine Schande ist, wenn man ein sooo interessantes und umjubeltes Gebiet nicht kennt, daher will ich den Helags unbedingt noch heuer "machen".

Ja, ja, ich weiss, ich falle in diesen unheiligen älplerischen Jargon, ganz unschwedisch, wo man Berge "macht", "abhakt", "mitnimmt" und was es derlei schlimme Sachen sonst noch gibt. Immerhin, bitte gleich anmerken - ein Gletscher auf 1800 Metern. Und das nicht einmal nördlich des Polarkreises.

Bergsee auf dem Weg zum HelagsIch bin ein äusserst vorsichtiger Mensch, will daher unbedingt eine Karte vom Helagsgebiet haben, aber auf meine Frage in der Rezeption wird mir erklärt, leider, erst in Ljungdalen. Nun gut, schade, denn ich liebe es, schon Tage vorher die Route durchzugehen, die Marschzahl der Bussole für jede Ecke festzustellen (eine Marschzahl, die dann aus irgendwelchen unerklärlichen Gründe eigentlich kaum je mit der Wirklichkeit übereinstimmt), aber immerhin, es geht eine Menge Zeit drauf und ich kann in dem guten Gewissen die Wanderung antreten, mich ausreichend vorbereitet zu haben.

Dass dann vor lauter Vorbereitung so wichtige Sachen wie die Butter aufs Brot oder die Gamaschen oder die Streichhölzer trotzdem fehlen, das ist ein anderes Kapitel. Auf alle Fälle erhalte ich genau darüber Auskunft, wie ich nach Ljungdalen komme. Ljungdalen ist nämlich der Ausgangspunkt für die Wanderung auf den Helags.

Die Abzweigung wird auch für mich nicht schwer zu finden sein, sie liegt nämlich ungefähr fünfzig Meter vom Wanderheim entfernt.

DIE SCHÖNSTE BIRKE IM LAND?

Tags darauf stehe ich in aller Herrgottsfrühe auf, um nur ja rechtzeitig in Ljungdalen anzukommen. Wobei "rechtzeitig" natürlich relativ ist, denn alles, was vor Einbruch der Dunkelheit ist, fällt unter diese Bezeichnung. Die Fahrt beginnt vielversprechend, denn gleich nach der ersten Kurve läuft eine Elchkuh über die Strasse.

Die Birken haben bereits die Herbstfarben angenommen und die Elchin posiert neckisch am Waldrand, äugt neugierig herüber, ehe sie nach zwei staksigen Schritten vom Wald verschluckt wird. So am Ende des Sommers sind die Tiere schön und wohlgenährt, das Fell spannt sich um den prallen Körper. Ich kann mir vorstellen, dass es herrlich sein muss, den ganzen Tag durch die Wälder zu streifen, mit keiner anderen Sorge, als ungefähr fünfzehn Kilo Blätter und Tannenwipfel zu verspeisen.

Die Strasse den Ljunganfluss entlang hat unter den Anglern einen hervorragenden Ruf. Mich wundert das nicht, denn nach den ersten zwanzig Schildern mit Hinweisen zu Angelseen und Bächen höre ich zu zählen auf. Und da habe ich noch nicht einmal die Hälfte des Weges zum Storsjön hinter mich gebracht.

ÅsarnaZu schön ist es, wenn die Sonne hinter den Bergen auftaucht, und die goldfarbenen Birken sich in dem spiegelglatten Seen gegenseitig herausfordern. Wer ist die Schönste im ganzen Land? Ein Motiv kommt mir fotogener vor als das andere, nur wenn ich endlich das Auto zum stehen bringe, um eine besonders schöne Stimmung einzufangen, dann ist auf einmal irgendeine Stromleitung im Weg oder weiter vorn ist es noch idealer und damit hat es sich auch schon wieder.

Die Fotoausbeute ist dementsprechend mager und wird der Realität überhaupt nicht gerecht. Am Storsjön wird meine flotte Fahrt abrupt eingebremst. Wie so oft in Schweden wird bei Strassenarbeiten nicht nur eine Stelle ausgebessert, nein, es werden um die zwanzig Kilometer Strassenbelag heruntergrissen, dann wird Schotter aufgebracht, der von der Dimension her an kleinere Felsmugeln erinnert und dann bleibt die Strasse wie sie ist, damit die Autofahrer den Schotter ordentlich einebnen können. Ungefähr drei Monate später wird der Asphalt aufgebracht.

Vägverket, wie die Strassenbaubehörde Schwedens heisst, und der die Instandhaltung der Strassen obliegt, macht es sich da recht leicht. Ich schleiche mit zehn Stundenkilometern dahin und werde von allem überholt, was Räder hat. Ein empfindlicher Einbruch meines Zeitplans. Doch immerhin, ich komme wohlbehalten nach Ljungdalen.


In Ljungdalen bleibe ich als erstes beim Tourismusbüro (Tel. +46 687 200 79) stehen, um eine Karte des Gebietes zu besorgen. Es gibt drei verschiedene zur Auswahl. Ich wähle die zweitbeste, und komme schon in der Hütte drauf, dass darauf genau der Teil zu sehen ist, der mich am wenigsten interessiert. Aber das weiss ich jetzt noch nicht, sondern ich bezahle, und frage noch ganz beiläufig, wo denn der Ausgangspunkt für die Wanderung zum Helags ist. Von Kläppen, das ist geradeaus, dann eine Schotterstrasse den Berg hinauf und nach sieben Kilometern befindet sich ein Parkplatz.

Ljungdalen ist eigentlich kein Ort, sondern nur eine Ansammlung Häuser. Immerhin gibt es einen Mechanikerwerkstatt, für einen wie mich, der uralte Autos fährt, ein sehr beruhigendes Faktum. Des weiteren gibt es eine Pizzeria, ein Hotel, eine Keramikwerkstatt, einen ICA Laden und eine Menge Schilder zu irgendwelchen Schiliften, die ich aber nicht entdecken kann. Vielleicht werden sie aus Landschaftsverschönerungsgründen nach Saisonende abgerissen und zu Winterbeginn wieder aufgebaut.

BITTE ABLAUFDATUM BEACHTEN

Frohgemut setze ich mich in mein Gefährt und tuckere los. Die obligate Aufregung, die mich immer erfasst, wenn es ans Wandern geht, ergreift wieder einmal Besitz von mir. Das Herz schlägt schneller, die Gedanken schwirren im Kopf umher, feuchte Hände umklammern das Lenkrad, Hunger meldet sich. Gut, dass ich noch gestern Abend ein paar Butterbrote geschmiert habe.

Dabei kam mir der letzte Rest des Specks, den ich in Gällivare vor drei Wochen für meine Wanderung in den Padjelanta besorgt hatte, gut zustatten. Doch was ist denn das, nach dem ersten herzhaften Bissen verzieht sich der Mund in Grausen, die Zunge rollt sich ein, der Magen revoltiert. Das Zeug schmeckt nicht sehr frisch. Eigentlich ekelerregend. Ich spüre bereits die Maden in den Eingeweiden wühlen. Speck soll sich doch unbegrenzt halten, oder?

Anscheinend nicht. So was von ranzig. Gut, dass auf dem Parkplatz ein Riesencontainer steht. Dorthin wandert meine Jause und das letzte Stücklein Speck gleich hinterdrein. Auf dem Parkplatz sehe ich mir in Ruhe die Autos an: ein Deutscher, der Rest, vier, sind Schweden.

Einer hat ein "färdmeddelande", also eine Wegbeschreibung, unter die Windschutzscheibe und unters Rückfenster gelegt. Pfiffig. Darauf steht, welchen Weg er geht, Abmarsch und berechnete Ankunftszeit und wer im Falle seines nicht zeitgerechten Auftauchens zu benachrichtigen ist. Die Idee ist echt gut, das kann man sich merken.

Im Rucksack befindet sich diesmal wirklich nur das Allernotwendigste, denn ich will, wie gesagt, ja nur eben mal schnell zur Hütte, am nächsten Tag auf den Helags, noch eine Übernachtung und dann wieder heraus. Guten Mutes lege ich die Gamaschen an, die vor allem den Dreck von meiner frisch gewaschenen Fjällrävenhose abhalten sollen. Rucksack geschultert, Fotoapparat umgehängt und schon geht es los.

Es ist elf Uhr am Vormittag, kühl und windig. Am Himmel jagen die Wolken einander, die Bläue lasse ich hinter mir.

DEN HELAGS IMMER VOR AUGEN

Zuerst geht es auf einem Fuhrweg dahin, vielleicht dreihundert Meter durch Birkenwald , links und rechts erheben sich in vielleicht fünfhundert Metern Entfernung Hügel. In der Ferne rauscht ein Bach. Vor mir ein Berg in Wolken. Das ist er wahrscheinlich auch schon, der Helags. Gut, dass man das Ziel immer vor Augen hat, das gibt Auftrieb.

Ich habe ungefähr elf Kilometer Wanderweg vor mir. Wanderung ist genau das richtige Wort für diesen Marsch zu den Helagshütten. Der Weg ist immer breit, immer übersichtlich und dürfte auch bei extremem Schlechtwetter nicht zu verfehlen sein, denn - er führt von Anfang an parallel zur Stromleitung dahin.

Dazu kommt noch das "Kesubon" genannte Kaffeehaus skandinavischen Zuschnitts, das ebenfalls eine durchaus angenehme Überraschung ist, werden doch bereits nach vierzig Minuten Wanderung warme Pfannkuchen angeboten. Wenn das so weitergeht, artet diese Wanderung zu einer lukullischen Entdeckungsreise aus!

StorsjönWasser gibt es gerade genug in dieser Gegend. Zig kleine Rinnsale queren den Weg, dann führt der Pfad überhaupt an einem mittelgrossen See entlang, ehe er sich nach einer kleinen Steigung über eine Art Hoch-ebene ringelt. Nach dem halben Weg locken einige sehr schöne Zeltplätze und danach verlasse ich den Birkenwald und in leichter Steigung geht es wieder auf den Berg zu.

Nach zweieinhalb Stunden stehe ich vor den Helagshütten. Es ist empfindlich kalt, der Berg ist in Wolken gehüllt und ich beeile mich, dass ich in die Hütte komme.

Der Schutzraum ist besetzt - drei junge Deutsche haben sich hierher zur Beratung zurückgezogen. Sie sind schon einige Tage unterwegs und schlafen im Zelt. Verdammt kalt, meint einer von ihnen lakonisch. Ausgerüstet sind sie enorm gut. Sogar mit dem Wassersack direkt im Rucksack. Ich glaube Kamelsack nennt man das in der Fachsprache. Nach kurzer Zeit machen sie sich wieder auf den Weg. Querfeldein, denn sonst macht es ja keinen richtigen Spass.

Ich stehe etwas unschlüssig da. Eigentlich ist es noch ein bisschen früh um sich in die Hütte zurückzuziehen. Daher reserviere ich auf alle Fälle einmal ein Bett mit meinem Schlafsack und lege zur Vorsicht auch gleich meinen Kocher und die Flasche mit dem Brennspiritus daneben. So, damit wäre der Rucksack um einiges leichter und kann auch als Tagesrucksack verwendet werden.

Jetzt könnte ich ja einmal den Weg für morgen erkunden. Gesagt, getan. Vor der Hütte pfeift der Wind recht unangenehm, aber im Windschatten ist es nicht kalt. Neben der Hütte steht ein gelbes Zelt, von den Bewohnern fehlt jede Spur. Laut der Karte müsste der Weg auf den Gipfel dort drüben von der Grube aus nach oben führen.

Vorher ist noch ein kleiner Bach zu queren, aha, dort hinten ist ein Brücklein, und von der Brücke geht auch ein Weg direkt in die Arena, die der Berg bildet. Zwei Bäche springen gischtendweiss über die zahlreichen Felsmugeln, die hier am Fuss des Gletschers zuhauf über den Hang verstreut liegen.

VERNEBELTE GLETSCHERARENA

Langsam steige ich den Berg hoch. Wenigstens bis zum Gletscher will ich heute noch gehen. Das Wetter ist nicht sehr einladend. Oder vielleicht bin ich einfach verwöhnt nach einer Woche strahlend blauem Himmel im Padjelanta. Ganz schön steil schraubt sich der Weg nach oben - so ähnlich wie der Weg hinauf zum Gletscher vom Kebnekaise.

Nach einer Stunde stehe ich am Fuss des Gletschers. Der ist gar nicht so klein, sondern füllt den ganzen Kessel aus, der vom Berg gebildet wird. Der Weg auf den Gipfel führt ziemlich gut markiert mit Steinmännern linkerhand die Schulter hoch. Ob ich nicht noch ein Stückchen? Es ist ja erst halb drei, bis vier kannst du ruhig noch gehen, rede ich mir selber zu. Gehen ist gut. Eine Gemse kommt hier leichter voran.

HelagsDer ganze Berg ist schlicht nichts anderes als eine riesige Geröllhalde, bestehend aus mehr oder minder grossen Felsblöcken. Der Weg führt, wie könnte es hier in Schweden auch anders sein, kerzengerade nach oben. Keine Serpentinen, keine Biegung, nichts. Geradeaus die Schulter entlang. Über Stock und Stein, naja, vor allem über Stein. Felsmugeln, die wahllos übereinander geschichtet sind.

Also, hier bin ich wirklich über meine Bergschuhe froh. Ich will gar nicht daran denken, wenn man diese Felsenaufschüttung mit Gummistiefeln bezwingen müsste! Die Blasen an den Füssen von der ständigen Reibung, wenn du nur mit dem Fussballen auftrittst und die Gummistiefel aus ihrer natürlichen Trägheit heraus erst nachschnellen um dann jedesmal genüsslich an der Ferse entlangzureiben!

Nach einer halben Stunde komme ich zu einem Rentierzaun, von dem nur mehr ein paar Stangen und das Drahtgeflecht am Boden übrig sind. Nebel fällt ein und bald schon ist es grauweiss um mich herum. Aber es ist erst halb vier und daher habe ich noch eine gute halbe Stunde meiner eigenen Zeitvorgabe. Ich muss eigentlich nur aufpassen, dass ich nicht zu weit nach rechts komme, denn da geht's senkrecht zum Gletscher runter.

Ich hasse Nebel! Jetzt fängt es auch noch zum Graupeln an. Längst schon habe ich die Mütze über die Ohren gezogen und die Winterfäustlinge aus dem Rucksack geholt. Wenigstens etwas - ich habe sie nicht umsonst mitgetragen. Mit dem Fotografieren wird es wohl nichts werden. Andererseits - ohne Bilder will ich auch nicht zurückkommen.

Vor mir sind ein Haufen Steine zu einem behelfsmässigen Windschutz aufeinandergeschichtet. Es wird kalt und der Wind wird stärker. Ob ich jemals da oben ankomme? Mein imaginärer Weg hat mich ganz plötzlich nahe an den Felsbruch hinunter zum Gletscher geführt.

Wow, die Spalten sind aber nicht von schlechten Eltern! Riesige Zacken wie nach einem Erdbeben durchqueren den gesamten Gletscher. Metertief leuchtet das Eis zu mir herauf, ehe ein plötzliche Windbö eine Decke aus dichtem Nebel darüberbreitet. Gut, dass ich diese Wetterbedingungen schon vom Kebnekaise her kenne, denn sonst würde ich jetzt zurückgehen. Andererseits kann ich nicht mehr weit vom Gipfel weg sein.

Es ist eigentlich ganz einfach - irgendwo da vorne in dem grauweissen etwas, da oben muss irgendwo ein besonders grosser Steinmann kommen, das Kennzeichen für den Gipfel.

TOPPRÖSET MIT GIPFELBUCH

Unverdrossen steige ich weiter, wobei ich höllisch aufpasse, bloss nicht auf einem der Felsen abzurutschen oder dass mir eine der Felsplatten umkippt und mir den Fuss einzwickt. Nein, die Gipfel solcher Berge können mir eigentlich gestohlen bleiben! Leise fluchend tapse ich weiter. Noch ein Windschutz, aber jetzt wird der Hang ein wenig flacher, oder bilde ich mir das ein?

Helags GipfelbuchNoch ein ganz besonders harter Windstoss und da sehe ich vor mir "toppröset", also den Gipfelsteinmann. Irgendwie ist es schade, dass der schöne Brauch mit den Gipfelkreuzen in Schweden nie zu Ehren gekommen ist. Doch immerhin ist der STF (Schwedischer Tourismusverband)inzwischen schon so weit, dass an besonders beliebten Gipfeln ein Gipfelbuch aufgelegt wird. So auch hier. Die erste Eintragung stammt von der Landeshauptfrau der Provinz Jämtland. Mit klammen Fingern fuzle ich meinen Namen auf die Seite.

So, eigentlich habe ich jetzt meine Pflicht getan - sogar in meinem Zeitrahmen bin ich geblieben. Es ist sechzehn Uhr und ich kann mich wieder an den Abstieg machen. Der Helags ist einer jener Berge, wo du für den Abstieg ebenso lang brauchst wie für den Auftstieg - aus lauter Vorsicht, dir bloss nicht den Fuss zu verstauchen. Nach einer Stunde komme ich an einen Platz, wo ich den Gletscherabbruch gut überblicken kann. Ein kleines Bächlein hilft mir, meinen Durst zu stillen - das Wasser ist einfach phänomenal wohlschmeckend und erfrischend.

Wie ich da so stehe und schaue, fallen mir einige Initialen auf, die mit Hilfe weisser Steine gleich neben dem Gletscher in die schwarze Erde gelegt sind. Und dort sind ganze Namen verewigt! Inzwischen knurrt mir der Magen und ich beeile mich runter.

Übrigens kann man an einem Tag mit schönem Wetter den ganzen Berg abgehen und an der gegenüberliegenden Seite des Gletschers wieder runterkommen. Das ist ein echter Tagesausflug von ungefähr fünfzehn Kilometern.

DENKWÜRDIGE NACHT IN DER HÜTTE

Ich stosse die Tür zur Hütte auf. An einem Tisch hat es sich ein Mann gemütlich gemacht und liest ein Buch. Um die fünfzig, untersetzt, Brillenträger, Knollennase in einem breiten Gesicht, graues Haar und ebensolcher spärlicher Bart. Geschäftig springt er auf und stellt sich vor. Lars aus Borlänge. Kommt gerade von Gåsen, oder war es Vålåfjället, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, auf alle Fälle ist er das Jämtlanddreieck gegangen. In dem Bewusstsein, dass wir jetzt miteinander bis morgen Früh auskommen müssen, richten wir es uns so gemütlich wie nur möglich ein.

Ich setze mich ebenfalls zu Tisch und hole Käse und Brot aus dem Rucksack. Lars hat schon eingeheizt und dreht das Licht an. Elektrisches Licht in einer Hütte! Ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, nach einem Schalter zu suchen. Lars, der meine Überraschung sieht, lacht und meint, das ist noch gar nichts, es gibt sogar eine elektrische Heizung. Nur kochen muss man auf dem Herd und so steht er kurze Zeit später und rührt an seinem gefriergetrockneten Hühnerfleisch, während ich an meinem Käsebrot kaue.

Das gibt mir Zeit, ihn ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Er trägt einen Trainingsanzug und hat seine Sachen zum Trocknen aufgehängt. North Face Goretexjacke, auch die Überziehhosen sind Goretex, irgendeine finnische Nobelmarke, Sarek Millenium Gummistiefel, neu, die hatte ich erst vor kurzem in einem Sportgeschäft anprobiert und mit einem paar Goretexsocken passen sie echt ganz ausgezeichnet. Lars scheint also ein alter Hase zu sein, was das Fjällwandern angeht.

Helags HüttenAls ich beiläufig erzähle, dass ich eben vom Gipfel herunterkomme, meint er nur, das würde ihm nie einfallen. Er gehe lieber hier herunten durch die Täler und schaue sich die Gipfel aus der Weite an. Lars ist in der Gegend so gut wie zu Hause - von Borlänge sind es gerade fünf Stunden hierher und so kommt er jedes Jahr mindestens dreimal. Im Winter, im Sommer und eben jetzt im Herbst auf eine Woche, um sich vom Büro zu erholen. Er ist Buchhalter beim Vägverket. Ich entschliesse mich, mich jeden Kommentars zu den Strassen zu enthalten, denn schliesslich hat er ein Recht darauf, im Urlaub von seinem Job verschont zu bleiben.

Mit seiner Ausrüstung ist er hochzufrieden, nur in Afrika, im Dschungel, wo er auf Urlaub war, da taugt das Goretex überhaupt nichts, meint er. Wenn die Luftfeuchtigkeit draussen ebenso hoch ist wie unter der Jacke, wohin soll die Körperflüssigkeit dann abziehen? Rhetorische Frage, aber sie muss gestellt werden.

Die Stiefel sind wirklich Klasse seiner Aussage nach. Anscheinend gibt es da eine Furt auf dem Dreieck und da geht das Wasser exakt bis an den Stiefelrand - und nicht darüber. Leider sind die Stiefel neu und er hat entsprechende Blasen an den Fersen. Doch die hat er bereits mit Heftpflaster fachmännisch abgeklebt.

Nach dem Hühnerfrikassee holt er sich zum Kaffee einen Flachmann heraus. "Whisky", meint er, "ich liebe dieses Stündchen nach einem Wandertag, wenn ich dasitze und an meinem Whisky schlürfe und die Wanderung in Gedanken Revue passieren lassen kann".

Ich sitze da und kaue noch immer an meinem Käsebrot. Ein Schluck frischen Gletscherwassers dazu.

LIEB MUTTCHEN KANN RUHIG SCHLAFEN

Nach einigen Minuten geht er ans Nottelefon, hebt ab und meldet sich zuhause zurück. Macht er in jeder Hütte, erklärt er. Auch wenn er direkt zur Polizei gekoppelt wird? Na, dann ersuche ich den Polizisten, bei meiner Frau anzurufen und zu sagen, dass ich wohlauf bin. Ob denn das gehe? Natürlich, die Polizei wäre auch froh - ein Telefonat aus der warmen Dienststube sei doch bedeutend einfacher als eine Suchaktion in der Nacht irgendwo im weiten Fjäll.

Ganz klar. Selbstverständlich und einleuchtend. Nur - ich würde mich das nie getrauen. Die Polizei hat für mich nicht diesen Ruf des Freund und Helfers sondern eher als eine Instanz, der man besser aus dem Wege geht. Ich brauche gar nicht mehr zu fragen, ob der Wagen mit der Wegbeschreibung sein Gefährt ist.

WIEVIEL PERFEKTION ERTRÄGT DER MENSCH?

Der Mann ist nicht unsympathisch. Er ist unterhaltend und es ist leicht und angenehm mit ihm zu plaudern. Was er sagt, ist fundiert und hat Hand und Fuss. Er ist für alle Fälle ausgerüstet und hat auf alle Fragen eine wohlüberlegte Antwort. Er erzählt, dass bei der Einweihung der neuen Brücke über den Öresund ein Marathonlauf stattfindet. Ob er daran teilnimmt? Selbstverständlich.

Verdammt nochmal, alles ist in bester Ordnung und trotzdem - warum leide ich plötzlich unter Atemnot? Er ist zu perfekt. Alles was er macht ist hieb- und stichfest. Da ist kein Platz für menschliche Schwächen, nicht einmal für Menschlichkeit. Es ist die Unfehlbarkeit, die Perfektion, die nahezu unmenschliche Präzision, mit der dieser Mann alle Probleme, die entstehen können, voraussieht und ausschaltet. Keine Notlüge würde ihm über die Lippen kommen, denn er hat das nicht notwendig, er handelt so gesetzestreu, dass er das nicht braucht, nicht nötig hat. Ich bin unerklärlich froh, als wir das Licht ausdrehen.

Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: der Mann ist wie diese Hütte. Elektrisches Licht, wo ich eine Kerze anzünde. Elektroheizung, wo ich Holz in den Ofen lege. Daunenschlafsack bis minus vierzig Grad in der überheizten Hütte bei geschlossenem Fenster.

Pünktlich um sechs Uhr läutet am nächsten Tag sein Wecker. Ich bin froh, dass ich den Herd nicht benutzt habe und auch kein Geschirr. Ich fege meinen Teil der Stube aus, sehe ihm noch kurz zu, wie er penibel genau seine beiden Feldflaschen mit dem Babybrei füllt, den er für jeden Tag in kleine Plastiksäckchen eingeteilt, abgekocht hat, und will nur mehr raus.

MARMELADEBROT, KAFFEE UND PROFILAUFNAHME

Helags GletscherDas Wetter ist nicht viel besser als gestern und auf dem Gipfel war ich schon. Ein letzter Blick auf den Gletscher in der Morgensonne. Ich sause los. Zurück zum Parkplatz. Nach drei Stunden bin ich beim Parkplatz, wo ich mir ein gemütliches Frühstück genehmige.

Heisser Kaffee mit Milch, Marmeladebrot dick mit Butter drunter. Ich bin gerade bei der dritten Tasse, da kommt mein Spezi angesaust. Der Schweiss läuft ihm von der Stirn und ich weiss genau, dass er sich so beeilt hat, weil er mich einholen wollte. Leider, Kollege.

Er zückt seinen Fotoapparat, ob ich nicht ein Bild von ihm machen kann. Natürlich, gern. Ich weiss genau, er wird mir sagen, wo ich abdrücken muss und wie er die Aufnahmen haben will. Richtig. Eine Ganzkörperaufnahme und einmal im Profil, die kühne Stirn mit dem Helags im Hintergrund. In einer Staubwolke verschwindet der Rechtschaffene.

Ich trinke in Ruhe meinen Kaffee, dann gehe ich zum Auto und packe alles ein. Einen letzten Tip will ich von meinem Wanderfreund umsetzen. Er hat mir empfohlen, über die Flatruet zurückzufahren. Dadurch spare ich mir zwei Stunden.

Was ich mir sparen will? Noch einmal zwanzig Kilometer Vägverkets Schotterstrasse.


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Last Updated: Freitag, 14. Oktober 2011
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