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Lappland/Norrbotten

Kebnekaise Nordgipfel

Auf das Dach Schwedens

 

 

Der Kebnekaise ist mit seinen 2.095 m zwar der höchste Berg Schwedens, doch international gesehen, ist mit dieser Höhe nicht viel Staat zu machen. In den Alpen sind die Zweitausender Berge, auf die man die Familie zum Sonntagsspaziergang mitnimmt. Es ist aber ein immenser Unterschied, ob man in den Alpen mit dem Auto bis zum Fuss des Berges fährt, im Berggasthof noch schnell einen Kaffee trinkt und dann zwei Stunden später schon wieder in der Berghütte nach vollbrachter Ersteigung mit Schnitzel und Bier den "Gipfelsieg" feiert. Die Verhältnisse in Schweden sind anders. Ganz anders. Von einem, der dies am eigenen Leib erfahren musste, handelt dieser Bericht. Auch wenn diese Bergtour noch einmal glimpflich abgelaufen ist - vielleicht mahnt sie den einen oder anderen, der sich ins schwedische Fjäll aufmachen will, zur Vorsicht und spornt ihn zu einer besseren Planung an.

Von Eduard Nöstl


 

,,Auf den Kebnekaise? Kein Problem, komm nur her und ich zeige dir den Pfad auf den Gipfel, da laufen täglich Hunderte von Leuten rauf, so dass wir einen ausgetretenen Pfad über den Gletscher haben." Mit diesen aufmunternden Worten zerstreut die Hüttenwirtin von der Kebnekaise Fjällstation, also der Berghütte am Fuss des Keb, wie ihn die Schweden nennen, meine letzten Zweifel. Natürlich würde ich den höchsten Gipfel Schwedens ersteigen, und im Handumdrehen würde es gehen. Vierundzwanzig Stunden später stehe ich auf dem Parkplatz von Nikkaluokta, neben einer Ansammlung unscheinbarer Hütten. Nikkaluokta liegt ungefähr sechzig Kilometer von Kiruna in westlicher Richtung.

Zuerst heisst es für den Parkplatz den Obolus zu entrichten. Dann will ich die neunzehn Kilometer zur Kebnekaise Fjällstation laufen, den Rucksack abstellen und nur mit einem Tagesrucksack auf dem Buckel schnell den Gipfel stürmen. Wie lange ich wohl brauchen werde? Tja, eine Übernachtung müsste reichen.

An der Autobushaltestelle neben der Nikaluokta Fjällstation sitzt ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen. Sie macht einen ziemlich erschöpften Eindruck. lhr Rucksack überragt sie noch um einiges.

"Warst du auf dem Kebnekaise?"
"Ja"
"Wie war es?"
"Heiss"
"Wie lang bist du denn gegangen?"
"Zwölf Stunden."
"Von hier?"
Jetzt schaut sie mich zum ersten Mal an.
"Nein, von drinnen, von der Keb Fjällstation".
"So lang?"
"Ja, wir sind über die Westroute gegangen. Der Gletscher hatte zu grosse Spalten".

Ich bedanke mich und schultere meinen Rucksack. Beim Gehen denke ich über die Worte des Mädchens nach. Zwölf Stunden? Für einen Zweitausender? Da stimmt doch etwas nicht. Naja, wer weiss, vielleicht war sie nicht so gut bei Fuss.

Der Weg zur Fjällstation ist nicht gerade kurzweilig. Ein ausgetretener Pfad mit grossen Steinen, an denen man sich die Zehen anschlägt, wenn man nicht höllisch aufpasst. Irgendwo habe ich gelesen, dass man den See, an dem der Weg entlang führt, auch mit dem Boot überwinden kann. Dadurch spart man sich sechs Kilometer. Jedem zu empfehlen! Auch die Hubschrauber, die immer wieder in niedriger Höhe über mich hinwegdonnern, erweisen sich als Alternative, die man durchaus in Betracht ziehen könnte.

Von Nikkaluokta zum KebnekaiseDas Wetter macht mir Sorgen. Dunkle Wolken hängen tief ins Tal und ein leichter Nieselregen hat eingesetzt. Von irgendwelchen Gipfeln ist nichts zu sehen. Nur jede Menge Leute kommen mir entgegen. Vor allem junge um die zwanzig, auch einige reife Wanderer, Vertreter des mittleren Alters fehlen. Das Tal ist breit, cirka fünf Kilometer, es dürfte sich um ein eiszeitliches Gletschertal handeln. Immerhin, es ist nicht kalt, so um die zwanzig Grad, und es gibt so gut wie keine Stechmücken.

In die Berge bin eigentlich nur ich unterwegs.Auch gut, da habe ich wenigstens Platz.

Nach vier Stunden stehe ich vor der Fjällstation. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von Häusern, die geduckt in den Hang hineingebaut sind. In der Rezeption wird mir ein Glas Saftwasser angeboten, doch ich will mir meinen Durst lieber auf ein Bier sparen. Ein Blick auf die Uhr belehrt mich, dass aus dem Gipfel heute wohl nichts mehr werden wird. Macht nichts. Das Wetter ist sowieso schlecht. Aus dem anfänglichen Nieseln ist ein ausgewachsener Landregen geworden. Ich frage nach der Gipfeltour.

"Tut mir leid, die geführten Touren sind eingestellt, Nebel, Neuschnee und vereiste Griffe. Wenn du trotzdem auf den Gipfel willst, musst du die Westroute, also den Winterweg gehen."
Im Zimmer bin ich einstweilen noch allein, erst spät am Abend kommen drei Leutchen herein. Erschöpft, aber zufrieden kommen sie vom Gipfel zurück. Wie lange sie gegangen sind? Vierzehn Stunden. Schon langsam glaube ich es.

Am nächsten Morgen um halb fünf gebe ich mir einen Ruck. Ich schiebe den Vorhang zur Seite. Hurra, es regnet nicht!

Um fünf ist Abmarsch. lch bin allein auf weiter Flur. Auch der Zettel, wo man die Tagestouren einschreibt, ist jungfräulich leer. Macht nichts, einer muss der erste sein. Feinsäuberlich trage ich Namen und Route ein.

Im Foyer der Hütte hängt eine Reliefkarte. Ich versuche mir den Weg einzuprägen. Weit schaut es aus. Rauf und runter und wieder rauf. Naja, es wird schon gehen. Wie der Hochschwab in den heimatlichen steirischen Bergen halt, nur mit einem Gletscher obendrauf.

Mein Tagesrucksack ist voll. Mütze, Handschuhe, Schal, Extrapullover, Biwacksack, und eine zünftige Jause mit ausreichenden Wasservorräten. Karte und Kompass sind auch mit dabei.

Etwa eine halbe Stunde nach der Fjällstation teilt sich der Weg. Rechts hinauf führt steil die Ostroute zum Gletscher. Soll ich nicht doch? Ein Blick nach oben in die graue Nebelwand belehrt mich eines besseren. Vielleicht, wenn ich den Weg kennen würde. Aber so, lieber ein paar Stunden länger laufen, als in einer Gletscherspalte ein unrühmliches Ende finden.

Kebnekaise SteinmannWasser gibt es nach den Regenfällen des letzten Tages genug. Nach einer guten Stunde gilt es, den ersten Bach zu durchwaten. Waten? Ich will mir nicht jetzt schon kalte Füsse holen, laufe also den Bach hinauf, um eine Furt zu finden. Mit dern Erfolg, dass ich beim Überqueren des Bachs erst recht nass werde und obendrein gleich noch den Weg verliere. Ich habe es früher schon gesagt und sage es immer wieder: Wenn man in Schweden wandert, dann lernt man erst die Verhältnisse in den Alpen schätzen. Von Markierungen haben die Leute hier wohl noch nichts gehört. Von Zeit zu Zeit ein eher zufällig aufgestelltes Steinmandl, das ist auch schon alles. Entweder haben die Wanderer einen sechsten Sinn, oder sie können wirklich so gut mit Karte und Kompass umgehen.

Das mit dern Kompass habe ich sowie so nie richtig verstanden. Auch wenn es mir nach viel Üben bereits ganz gut gelingt, Marschzahl und Richtung auf dem Kompass anhand der Karte festzustellen, was ist bei einem richtigen Nebel? Da fällst du ja über einen Abhang hinunter, bevor du nur „bah" sagen kannst, wenn du nur nach dem Kompass drauflosrennst. Aber das nur so als kleine Anmerkung.

Nach der Überquerung des Bach laufe ich den Hang hinunter und suche nach dem Weg. Nichts. Grau in grau, brauner Boden, Geröll. Nur der Bach plätschert lustig und sorglos über die Nockerln dahin.

Ich lasse meinen suchenden Blick in die Runde schweifen. Ich befinde mich in einern Talkessel, rechts oben hängt der Gletscher, die Richtung ist so gut wie ausgeschlossen. Links geht es ins Tal hinunter. Auch nichts. Dort drüben lockt ein Schneefeld. Lieber nicht. Bleibt also nur noch die Geröllhalde schräg vor mir. Quer über die Geröllhalde zieht sich ein Schatten. Zu Haus würde ich das für einen Gemsenwechsel halten. Nur, hier gibt es keine Gemsen. Könnte sich also um den Pfad handeln. Also los, nur irgendetwas tun, nicht herumstehen. Ich steige hoch. Richtig, dort droben ist ein Steinmandl.

Der Nebel wird dichter. Ich steige die Schulter hoch. Immer weiter von einem Steinmandl zum nächsten. Zwischendrin gibt es auch verwaschene rote Punkte. Die sind wahrscheinlich noch von der Jahrhundertwende, als das Gebiet hier erschlossen wurde.

Nach drei Stunden fünfzehn Minuten bin ich auf einem Zwischengipfel. Hier haben sich die Schönwettertouris damit vergnügt, viele, viele Steinmänner zu errichten. Unheimlich lustig, wenn die Sonne vom Himmel strahlt und hundert andere Leute hier oben sind. Zum Auswachsen, wenn man den Weg nicht kennt, verzweifelt die Richtung und den richtigen Steinmann sucht, während der Nebel zum Greifen heranwächst.

Mir wird klar, dass es sich hier keineswegs um einen Spaziergang handelt, sondern um eine Hochgebirgstour - die sehr leicht mit einem Desaster enden kann. Da, endlich, nach einer Viertelstunde angestrengten Suchens eine rote Markierung. Es geht abwärts. Das heisst, ich habe schon ein gutes Stück des Weges geschafft, denn den Erzählungen der anderen Wanderer war zu entnehmen, dass es sich hier um das Schlüsselstück der Wanderung handelt. Ein Stück runter und dann wieder rauf auf den eigentlichen Berg.

An der Sohle zwischen den beiden Bergen erstreckt sich ein kleiner Gletscher. Nur nicht darauf kommen. Ich taste mich weiter von Steinmandl zu Steinmandl, von Markierung zu Markierung. Was ohne diese roten Tupfer wäre, male ich mir lieber nicht aus. So steige ich geschwind bergan. Der Nebel wird immer dichter, oder sind das jetzt schon Wolken? Es wird empfindlich kalt.

Mütze und Handschuhe habe ich schon an, die Kaputze meiner Jacke wird fester geschnürt. Jetzt müsste ich eigentlich bald einmal bei der ,,Toppstugan", also der Gipfelhütte vorbeikommen. Nur - wie soll ich die in dieser Nebelsuppe finden? Langsam aber sicher verlässt mich der Mut. Ob ich je wieder aus diesem Nebel hinausfinden werde? Und noch schlimmer: Was wird aus dem Gipfel?

Doch da, was ist das? Zwei vermummte Gestalten bewegen sich schemenhaft aus dem Nebel auf mich zu. Menschen! Hurra! Voll Freude eile ich auf die beiden zu. Rufe sie an. Deutsche! Bayern!

Begegnung im Nebel auf dem KebBei den beiden dick vermummten Wanderern handelt es sich um Arthur Lang und seine Tochter Karin. Die Rucksäcke, die sie da mitschleppen, müssen Tonnen wiegen. Aus ihrer Erzählung ist zu entnehmen, dass sie in der Gipfelhütte übernachtet haben, nachdem sie gestern den Gipfel gemacht hatten. Ein Beisatz in der Erzählung Arthurs lässt mich aufhorchen.

 

"Da oben ist Neuschnee und der Grat kann ganz schön knifflig sein. Hast Du Eiserln dabei?"

Ogottogottogott. Steigeisen? Auf einen Zweitausender? Grat? Neuschnee?

,,Naja, als Steirer schaffst du es sicher auch ohne".

Da sieht man wieder, was für einen guten Ruf der Steirer hat. Leo Schlömmer sei Dank. Oder Erzherzog Johann?

Karin scheint da nicht so sicher. „Du, gestern war aber die eine Seite des Grats ganz schön vereist".

"Jaja, aber das geht schon. Mit ein bisschen gutem Willen", beruhigt sie der Vater. Die beiden haben anscheinend alles mit. Von den Schistöcken bis zu den Steigeisen.

,,Also, du gehst einfach immer nach oben, dann kommst du zur Toppstugan. Dort schlafen übrigens drei junge Burschen, die sind gestern erst spät herauf gekommen. Von der Hütte immer weiter nach oben bis zum Gletscher. Dort siehst du unsere Spuren. Und pass' auf beim Kamm, der hat es in sich."

Ich bedanke mich und sehe ihnen noch nach, wie sie im Nebel verschwinden. Schade, ich hätte gerne noch länger mit ihnen geplaudert. Leute aus Germering hier heroben. Jaja, die Welt ist klein.

Kebnekaise BiwakschachtelDie Begegnung mit diesen sympathischen, ruhigen und wohlwollenden Menschen hat mir neue Kräfte gegeben. Frohgemut steige ich bergan. Und wirklich, da ist ja auch schon die Hütte. Ich stosse die Tür auf. Im Vorraum will ich noch ein wenig jausnen, denn allzu weit kann es jetzt ja nicht mehr sein. Die Wiesbauerwurst und der Emmentaler schmecken selten gut. Dazu ein Schluck Wasser.

Drinnen rührt sich jetzt etwas. Ein verschlafenes Gesicht schaut mich durch die Scheibe an. Ich gehe in den Schlafraum und hocke mich an den Tisch. Einer nach dem anderen werden die drei Burschen wach. Kein Wort fällt. Wäre ich es nicht schon gewohnt, dass Schweden eher wortkarg sind, ich würde mich wundern. Nach geschlagenen zehn Minuten sagt der erste Bursche „Hej".

,,Hej".

"Alles klar?"

"Alles klar."

Das war es auch schon. Ab jetzt bin ich für sie nicht mehr vorhanden. Auch gut. Ich mache mich fertig. Draussen ist der Wind ziemlich stürmisch geworden. Die Nebelfetzen treibt er über den Berg wie ein irischer Wolfshund seine Schäfchen.

Hinauf, hinauf, alles oder nichts. Nach ein paar Minuten stehe ich am Gletscher. Vor mir ist es weiss. Hinter mir vielleicht zehn Meter Sicht übers Geröll, dann auch weiss. Puh, Karin hat recht gehabt. Neu-schnee. Hoffentlich finde ich die Spuren. lch laufe am Fuss des Gletschers hin und her wie ein Jagdhund vor dem Kaninchenbau.

Endlich ahne ich eine braune Spur, die sich schwach unter dem Schnee abzeichnet. Ich folge dieser matten Spur den Hang hinauf, wo sie sich verliert. Immer wieder drehe ich mich um, damit mich das Weiss nicht total verschluckt. Nach ungefähr zehn Metern verliere ich den schützenden Geröllhorizont aus dem Gesichtskreis. Jetzt kann ich nur mehr in der eigenen Spur zurück. Ich zögere.

Ist es das wirklich wert? Ich wende und laufe den Hang hinunter. Am Geröll angekommen bleibe ich schwer atmend stehen. Aufgeben? Umdrehen? Ich beisse die Zähne zusammen und steige nochmals bergan. Immer weiter. Der Hang geht in eine Mulde über, der Wind treibt den Nebel hoch und vor mir erhebt sich ein Steilhang. Lieber nicht. Ich folge dem Kessel und komme zu einem Abbruch. Hier hat der Wind den Schnee weggeblasen und eine Eisplatte versperrt den Weg nach oben. lch versuche mit meinen Schuhen halt zu finden. Es müsste gehen. Wieder schreit alles in mir, umzudrehen.

Nein, umgedreht wird nicht. Ich setze den ganzen Fuss auf und taste mich vorsichtig nach oben. Linkerhand möchte ich nicht hinunterrutschen. Dort geht's ins weglose Nichts. Und das ziemlich steil. Nach sieben Metern habe ich wieder Schnee unter den Füssen. Wie hatte Arthur gesagt - über den Grat musst du drüber. Ich gehe weiter und habe den Grat vor mir. Er erstreckt sich extrem ausgesetzt in den Nebel hinein, wie es Grate halt so an sich haben.

Da soll ich rüber??? Jetzt wird es ernst. In Panik drehe ich mich um und laufe über das Eis hinunter. Nur weg. Wieder im Schnee zwinge ich mich, stehenzubleiben. Nein, du darfst nicht weglaufen. Du musst es versuchen. Du musst.

Ewiges Eis auf dem KebnekaiseIch drehe um und gehe übers Eis zurück. Der Grat ist ausgesetzt. Dreihundert Meter geht es runter, links und rechts. Doch immerhin, hier sind Spuren. Nur eines stört mich. In einem Winkel meines Gehirns, wo die grauen Zellen noch arbeiten können, stelle ich fest, dass sich der Grat langsam nach unten neigt. Das heisst also, ich muss drüben, wo immer das sein mag im Nebel, wieder hoch klettern, denn der Gipfel muss ja höher sein als der, auf dem ich mich jetzt befinde!

Das sind Aussichten. Ich gehe ein paar Schritte vor, doch da hören die Spuren auf. Der Schnee von gestern hat sie mit feuchtem Neuschnee zugedeckt. Immerhin, die Löcher der Pickel sind deutlich zu sehen. Was würde Reinhold Messner tun? Der Übermensch würde wahrscheinlich mit den Händen in den Hosentaschen da rüber spa-zieren, und noch ein Liedchen pfeifen.

Aber ich? Ich komme mir klein und verlassen vor. Ich verfluche meinen Ehrgeiz, stets einer spontanen Idee zu folgen und alles sofort und allein zu machen. Kein Pickel, nicht einmal einen Wanderstab habe ich. Geschweige denn Steigeisen.

Eines wird mir inzwischen klar: der Kebnekaise ist kein Spaziergang. Das ist ein ausgewachsener Berg, eine alpine Herausforderung - zumindest unter solchen Bedingungen, wie sie heute herrschen. Wenn doch nur der Nebel aufreissen würde! Nichts dergleichen passiert, meine Gebete verhallen ungehört, der Grat verschwindet im Nebel. Ich stecke probeweise zwei Finger in ein Pickelloch. Hm, das müsste gehen.

Ich drehe mich zum Berg und versuche, mit meinen extrem festen, immerhin zwanzig Jahre alten Bergschuhen eine Stufe zu schlagen. Es funktioniert! Die nächste Stunde kämpfe ich mich über den Grat. Es geht immer leichter, nur zurück will ich lieber nicht schauen. Nur nach vorn. Doch auch dort ereignet sich keine Offenbarung. Nur die Nebelwand schiebt sich immer weiter den Grat entlang. Wie lang ist er eigentlich?

Ich entsinne mich einer Ansichtskarte, die ich in der Fjällstation gesehen habe. Zwei Bergsteiger waren dort angeseilt und mit Pickel unter einem strahlend blauen Himmel über den Grat gewandert. Dreihundert Meter vielleicht. Naja, dann habe ich ja bald die Hälfte.

Jetzt sind oben auf dem Grat die Spuren von Steigeisen zu sehen. Drei Meter vielleicht muss man aufrecht über den Grat balancieren. Ich überlege kurz. Drüberreiten hat keinen Sinn, da wird nur der Hosenboden nass.

Ich richte mich auf und gehe die paar Schritte. Dann in die Hocke und auf der anderen Seite ein paar Schritte hinunter. Weit unten geht das Schneefeld in einen Felsabsturz über. Der Wind pfeift und heult und mir will scheinen, als ob sich der Nebel ein wenig lichtet.

Ich will gerade neuen Mut fassen, da rutscht mir auf einmal der Fuss, den ich tastend vorgestreckt habe, weg. Die Schrecksekunde lässt meinen Mund trocken werden. Herrgott nochmal, pass doch auf. Vorsichtig hacke ich mir einen Stand zurecht. Ich lehne mich nach aussen, um den weiteren Weg zu rekognoszieren. Ein Blick genügt und ich weiss, dass das Aus gekommen ist. Eis. Richtiges, blankes Eis. Was drüben auf der Südseite der Wächte als Nasschnee liegengeblieben ist, war hier auf der Wetterseite vom Wind übers Eis geblasen worden. Oder so ähnlich. Auf alle Fälle: Eis ist Eis, wie immer es auch entstanden sein mag.

Ich bin mit meinem Latein am Ende. Naja, immerhin, ich habe es wenigstens versucht. Bin bis zur absoluten Grenze meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten gegangen. Mehr kann man nun wohl nicht verlangen. Sollen mich alle anderen einen Hasenfuss schimpfen, hier noch weiterzugehen wäre reiner Selbstmord. Vor allem, wo ich drüben wieder hoch muss. Und zurück. Auch wenn ich es einmal schaffe, zweimal hiesse das Schicksal versuchen.

Schweren Herzens mache ich mich auf den Rückweg. Wie in Trance steige ich. Völlig problemlos stehe ich nach vielleicht zehn Minuten wieder am ersten Gipfel. Als wollte mich der Wettergott necken, scheint er jetzt ernst zu machen mit dem Aufreissen. Der Wind schleudert die Nebelfetzen in einem tosenden Wirbel kerzengerade nach oben, doch darüber ist bereits der blaue Himmel zu erahnen.

Ich schiesse noch ein paar Bilder von meiner missglückten Tour und dann nichts wie weg von hier. Ich laufe wieder übers Eis nach unten. Der Nebel hat sich so weit gelichtet, dass ich den Hang überblicken kann. Dort unten krabbeln die drei Burschen aus der Hütte herum. Ich beobachte sie, wie sie fröhlich den Hang hochlaufen.

Komisch, die haben nicht einmal einen Rucksack, geschweige denn ein Seil oder Steigeisen. Die müssen ganz schön auf Zack sein, wenn sie nur so über den Grat auf den Gipfel wollen. Ich zögere und warte, bis der erste auf Hörweite herangekommen ist.

"Wo geht denn ihr bin?"
"Auf den Gipfel".
"So? Ohne Eisen?"
Seine stahlblauen Augen mustern mich verblüfft.
"Klar, wozu brauchen wir denn das?"
"Naja, ich dachte nur, wenn ihr über den Grat wollt, dann wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn ..."

Hilflos breche ich ab. Mir ist zum Kotzen. Da strenge ich mich an wie nur was und dann kommen diese drei Büblein daher und wollen die Gratquerung als Spaziergang machen!

"Sag mal, was meinst du denn eigentlich, wir stehen doch auf dem Gipfel", reisst mich die Stimme des Burschen aus meinen Gedanken.
"Auf welchem Gipfel? Der ist doch dort drüben hinter dem Grat!"
"Ja, der Nordgipfel, aber das hier ist der Südgipfel, der höchste Punkt Schwedens, eben der Kebnekaise."
"Du meinst, das ist der Gipfel?"
Er nickt bestätigend mit dem Kopf.

"Dann habe ich also alles erledigt, kann zufrieden mit dern Gipfelsieg in der Tasche nach Hause gehen?"
"Ja, ja".
"Super, passt!" rufe ich noch und laufe frohlockend den Hang hinunter, vorbei an den anderen Burschen, die mir kopfschüttelnd nachblicken.

Als wollte der Himmel meine Freude teilen, wird es immer heller. In der Talsenke scheint schon die Sonne, und bei den vielen Steinmännern ist die Sicht hinüber auf den Gletscher, der mit seinen vielen Spalten herübergrüsst, ganz ausgezeichnet. Nur der Gipfel des Keb ist immer noch in Wolken. Aber das macht nichts, ich war ja oben.

Epilog

Nach sieben Stunden hole ich meine zwei Münchner wieder ein. Als ich ihnen von meinem Erlebnis erzähle, kann sich Arthur ein Lachen nicht verkneifen.

„Jetzt stell dir vor, da lauf ich doch glatt zweimal auf diesen blöden Gipfel. Das letzte Jahr bin ich so weit gekommen wie du heute. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich auch wirklich am Gipfel war und bin daher noch einmal hierhergekommen, um endlich den höchsten Punkt Schwedens zu ersteigen. Das ist doch zum Lachen".
Ich stimme in das befreiende Gelächter ein und bald stehen wir alle drei und halten uns die Seiten vor Lachen. Immerhin - auch ich nehme mir fix vor, den Grat zu überwinden und auf den Nordgipfel zu kommen. Speziell, weil ich jetzt weiss, dass ich drüben nicht wieder hochklettern muss.

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Last Updated: Freitag, 14. Oktober 2011
Copyright 1999-2011 Dr. Eduard Nöstl

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