Mitternachtssonne
am Polarkreis
Immer
wieder erhalten wir Post von Fans der absoluten Einsamkeit.
Von Leuten, die allein sein wollen und je weiter im
Wald und fern jeder Zivilisation, je lieber. Alle
Verächter der modernen Lebens aufgepasst! Hier
kommt eine Gegend, wo auch der eingefleischteste Einsiedler
sich nach einem Kameraden zu sehnen beginnt. Ich rede
vom Fluss Råneälv und seinem zweihundert
Kilometer langen Tal. Der Råneälv ist einer
der wenigen frei lebenden Flüsse Nordschwedens,
er ist also von jedem Kraftwerk mit seinen Dämmen
und Flussregulierungen verschont geblieben. Die wenigen
Strassen, die es in seiner Nähe gibt, sind Schotterstrassen
und wir Mitteleuropäer würden eigentlich
eher Forststrassen dazu sagen.
von
Eduard Nöstl
Das
Tal des Råneflusses, zu einem Gutteil nördlich
des Polarkreises gelegen, ist bisher von den zwangsbeglückenden
Segnungen des Tourismus verschont geblieben, so ist
es mir trotz eifrigen Suchens nicht gelungen ein Tourismusbüro
ausfindig zu machen, es gibt kein Hotel, keine Herberge,
kein Gasthaus, nichts. Nur Fluss, Seen und den immergrünen
Wald: Kiefernwälder erstrecken sich soweit das
Auge reicht, unterbrochen nur von den blumenübersäten
Wiesen an den Seiten des Flusses. Komm mit auf eine
Reise in die Urzeit!
Ich
lasse den Tag vor meinem geistigen Auge noch einmal
an mir vorbeiziehen. Die Fahrt hierher in den Norden,
die gehobene Stimmung als um zwei Uhr nachts der Himmel
rot gefärbt war von der Sonne und keine Dunkelheit
mehr eintreten wollte. Die Strassen herauf nach Nattavaara,
die scheinbar ohne Ende durch die Wälder führen.
Das
interessante Experiment des Bernhard Zimmer, eines
Schwaben, der sich vor zehn Jahren mit seiner Frau
Diana zurückgezogen hatte und ohne Elektrizität
nur mit seiner Hände Arbeit eine Zukunft aufgebaut
hatte. Jeden Winter führt er seine Gäste
mit zahmen Rentieren durch den meterhohen Schnee und
lässt seine Gäste erleben, wie einfach wir
ohne die Segnungen des Zivilisation auskommen können.
Merkwürdigerweise
gehören zu seinen Gästen vor allem Manager
Ärzte, Rechtsanwälte, die sich hier an der
Natur Kräfte für ihr aufreibendes Tagesgeschäft
holen. Verkehrte Welt! Leute, die sich alles leisten
können, kommen in die Einöde um dem zu entfliehen,
wofür sie sich ein Leben lang abgerackert haben.
Bernhard
hatte mich auf eine schnelle Tour durch seinen Besitz
mitgenommen. Alle Häuser, es gibt deren drei,
nicht zu reden von dem originellen mit Torf verkleideten
Gebäude, das mit seinen acht Nischen und der
Feuerstelle in der Mitte mit Rentierfellen auf dem
Boden nun wirklich allen Anforderungen auch noch so
romantischer Seelen genügt, sind eigenhändig
von ihm erbaut.
"Da
erzähle ich den Leuten richtige Gute Nacht Geschichten
und ob du es glaubst oder nicht, ich höre, wie
sie einer nach dem anderen brav einschlafen."
Diana kocht einen wunderbaren Kaffee und ich darf
mich kurz zu den beiden im eigenen Wohnhaus setzen
und bewundere die geschnitzten Elche, die ihnen der
gleiche Künstler, der das Polarkreis Monument
geschaffen hat, geschenkt hat. An der Wand hänge
tolle Impressionen mit Szenen aus dem Polarnacht geschaffen
von einem anderen begabten Sohn des Orts, Lennart
Persson.
Vermutlich
verstehen diese Künstler die Beweggründe
dieses deutschen Paares noch am ehesten - verwandte
Seelen, denn auch Bernhard ist ein Künstler,
ein Lebenskünstler, der mit seiner Hände
Arbeit das Überleben unter härtesten Bedingungen
zu einer Kunst erhebt.
Fünf Kinder ziehen Diana und Bernhard gross.
Ohne Strom, ohne Kühlschrank, ohne nichts von
dem, was wir als unabdingbar finden für unseren
Lebensstil. Diese beiden Menschen zu erleben, das
Glück in ihren Augen und in den Augen ihrer Kinder
zu sehen, das allein macht schon, dass sich die Reise
hierher rechnet. Die Frage nach dem Warum hat sich
nie für die beiden gestellt, es würde ihnen
nie einfallen, irgendetwas von dem in Frage zu stellen,
was sie machen. Es ist selbstverständlich wie
das Leben und wenn es ihnen einmal nicht mehr gefallen
sollte, werden sie einfach weiterziehen.
Romantisches
Nattavaara nördlich des Polarkreises
Von
diesem Drang zum Nomadisieren spüren die Bewohner
von Nattavaara nichts in sich. Ganz im Gegenteil,
ihnen gefällt es hier im Norden direkt ober dem
Polarkreis und sie tun alles, um sich in dem kleinen
Ort ihr wenn auch karges Auskommen zu schaffen. Bertil
Holmberg und Per Erik Jönsson sitzen im kleinen
Café, das der Heimatverband hier im Sommer
zur Aufbessserung der Finanzen betreibt. Es ist die
einzige Stelle, wo man überhaupt etwas zu essen
kriegen kann in diesem Tal und daher gut frequentiert.
Das Café liegt direkt am kleinen Flüsschen
neben der Brücke, wo sich die zwei Strassen,
die nach Gällivare und die nach Mårdsel
kreuzen.
Es
ist strahlend blau, obwohl es am Vormittag noch leicht
geregnet hat und das Grün der Kiefern und der
Wiesen hebt sich wohltuend gegen den blauen Himmel
ab. Majken, eine ältere Dame serviert einen Lachseintopf,
der hervorragend schmeckt, danach gibt es hausgemachten
Kuchen. Bertil lässt es sich nicht nehmen und
schleppt mich zur grossen Attraktion des Ortes, den
sechs eigenhändig gezimmerten Hütten gleich
neben dem Heimathaus.
Die Hütten sind wie immer geräumig, voll
moderner Küche und Badezimmer ausgerüstet
und mit SEK 450.-, also etwas über hundert Mark
pro Nacht für sechs Personen echt preiswert.
Im Heimathaus zeigt Bertil auf die Bilder an der Wand.
"Das ist von der Eröffnung des Motorschlittenpfads
Malmens Väg durch den König." Selten
habe ich den König so entspannt gesehen, er lacht
und scherzt mit den Leuten. Kein Wunder, hat er doch
hier oben im "roten Norden" seine grössten
Anhänger.
Bertil
schmunzelt vor sich hin und erklärt: "Als
der König von Gällivare mit dem Skoter hierhergefahren
ist, war natürlich der ganze Ort auf den Beinen.
Wie er nun kommt, sag ich zu ihm: 'Majestät sind
wohl zu schnell gefahren' (jeder weiss, dass der König
ein Faible für schnelle Autos hat)." Ein
bisschen verdutzt ob dieser Anrede fragt der König
nach dem Grund dieser Annahme. "Weil unsere Kartoffel
noch nicht gar gekocht sind" ist die schlagfertige
Antwort Bertils.
Dazu
muss man wissen, dass Bertil ein richtiger Patriarch
mit weissem Bart und beachtlicher Leibesfülle
ist. Sein Alter schätze ich auf Ende sechzig,
später erzählt er mir, er habe schon die
Achtzig vorbeistreichen gesehen. Bertil nimmt seine
Rolle als Vorsitzender des Heimatvereins ernst und
gleich neben seinem Wohnhaus rüstet er einen
alten Hof aus dem vorigen Jahrhundert auf. Alles soll
wieder original entstehen, sogar das Dach wird mit
Holzschindeln gedeckt. Überhaupt ist die Bautätigkeit
hier im Norden rege und die Menschen, die noch da
sind, strotzen vor Selbstvertrauen und einem unverrückbaren
Glauben an die Zukunft.
Recht haben sie, denn die Natur des Råneflusstals
bietet ihnen eine Lebensqualität, um die sie
auch halb Schweden beneidet, nicht zu reden von den
Bewohnern des übrigen Europa, die oft dicht an
dicht leben müssen. Hier gibt es Platz.
Von
Waldsamen und anderen Leuten
Per Erik Jönsson der auch mit von der Partie
ist, ist eine Generation jünger als Bertil, um
die Mitte Dreissig und fährt mich in seinem Mercedes
in der Gegend herum zu den schönsten Stellen,
wie er meint. Wir holpern auf den Schooterstrassen
dahin zu diversen Flussbiegungen und immer wieder
verweist Per Erik auf kleine Übernachtungshütten,
die zur Veredlung der Infrastruktur an schönen
Stellen errichtet wurden. Alle sind perfekt ausgestattet
mit kleinem Öfchen, Tisch, Bänken und Sauna.
Ein Hauch von Schilda liegt über diesen Bestrebungen
will mir vorkommen, denn im ganzen Råneflusstal
habe ich kein Tourismusbüro gesehen und wie sollen
nur die Touristen diese Edelsteine, wie sie die Hütten,
die noch dazu gratis zu benützen sind, finden?
Per
Erik ist ein typischer Vertreter der Spezies, die
sich hier heroben im Norden durchschlagen. Er hat
studiert, ist Ingenieur und hat auch für einige
grosse Firmen gearbeitet, hat sich aber jetzt selbständig
gemacht und führt andere Firmen durch den Dschungel
schwedischer und neuerdings auch EU Vorschriften.
Seine Frau betreibt eine Firma, die sich mit Computerprogrammen
beschäftigt.
Dabei
ist Per Erik ursprünglich ein Same mit einem
eigenen Rentierzeichen, das er von der Schwester seines
Grossvaters geerbt hat. Er hat gemeinsam mit seinem
Bruder über hundert Rentiere und mehrmals, als
wir an Wäldern vorbeikommen, zeigt er gleichsam
zerstreut aus dem Fenster und meint: "Ah ja,
da fahren wir wieder durch meinen Wald". 400
ha Kieferwald ist auch nicht schlecht, vor allem wenn
einmal Ebbe in der Kasse ist und Rechnungen anstehen,
naja, dann wird halt wieder ein Baum mehr gefällt
und die Sache hat sich. Lächelnd erzählt
Per Erik, dass ganz Nattavaara auf den Polarkreis
wartet, denn in etwa tausend Jahren wird der Polarkreis,
der sich ständig gegen Norden hin verschiebt,
durch den Ort verlaufen.
Per
Erik zeigt mir auf seiner Digitalkamera ein paar Bilder
von der Rentierkennzeichnung, die er am Tag zuvor
aufgenommen hat. Überhaupt ist ein Kennzeichen
der Menschen hier im Norden ihr unverwüstlicher
Glaube an die Segnungen der Technik und ihr Mantra
ist der Fortschritt. Als ich beiläufig frage,
wo ich denn einen Film für meinen Fotoapparat
herbekommen könnte, sehen sich Bertil und Per
Erik zunächst ratlos an, denn beide haben natürlich
das neueste an digitaler Fototechnik in der Tasche.
Zuletzt kommen sie drauf, dass vielleicht im Heimathaus
unter all den alten Klamotten noch irgendwo ein Film
herumkugeln könnte, was auch stimmt.
Egal,
Per Eriks Bruder ist auf alle Fälle Vollzeitsame,
er kümmert sich also um den Wald und um die Rentiere.
Im Unterschied zu den Fjällsamen laufen die Waldsamen
ihren Tieren nicht die ganze Zeit hinterher, sondern
die Tiere bewegen sich frei im Wald, und brauchen
nicht in die Berge getrieben zu werden, sondern bleiben
das ganze Jahr über in den Wäldern. Auch
für die Kennzeichnung der Jungtiere haben sich
die Waldsamen etwas Neues einfallen lassen: Sie verwenden
kein Lasso und fangen die Tiere aus der Herde, die
im Kreis herumgetrieben werden, sondern sie binden
eine Öse an eine lange Stange, schleichen sich
an die Tiere heran und schwupp, steigt das Tier in
die Öse und ist gefangen. Ein Schnitt ins Ohr
kennzeichnet das Jungtier für alle Zeit mit dem
Zeichen seines Besitzers.
Der
harte Kampf gegen die fliegenden Geschwader
Von
Nattavaara fahre ich in meine Hütte am Polarkreis
und dem tollen Monument des Erling Johansson. Als
Bertil hört, dass ich dort übernachten werde,
stellt er mir flugs eine Urkunde aus, die bezeugt,
dass ich in Nattavaara den Polarkreis überschritten
habe. Diese Urkunde hängt jetzt an der Wand und
ist ein lustiges Erinnerungsstück an das Råneflusstal.
Es
ist zwölf Uhr mitten in der Nacht. Zum hundertsten
Mal setze ich mich auf und klatsche in die Hände.
Wieder eine Gelse. Trotzdem weiss ich, dass ich in
spätestens zwei Minuten wieder das Surren der
nimmermüden Quälgeister im Ohr haben werde.
Es ist taghell, die Sonne scheint durch die Scheiben
meiner Hütte, in den Strahlen sehe ich die Mücken
taumeln. Freudetrunken dass sie ein Opfer gefunden
haben, das so dumm war, sich nur mit einem Gelsenspray
bewehrt hierher in diese Hochburg der nordischen Mückenkultur
aufzumachen.
Die
roh behauenen Stämme der Kiefern, aus denen meine
Hütte erbaut ist, riechen noch deutlich nach
Harz. Ich habe zwei Bänke zusammengeschoben,
die mein Bett bilden. Ein Tisch und ein Kanonenofen
bilden die ganze Einrichtung. Die Tür schliesst
nicht richtig, das heisst es ist ein Spalt von etwa
einem Zentimeter frei, durch den die Mücken immer
wieder hereinfinden.
Zuerst
hatte ich noch zu lesen versucht. Stoische Ruhe beobachtet.
Dann waren mir die Augen zugefallen. Gerade im einschlafen
hatte ich dieses Surren im Ohr verspürt, mit
einem Ruck hoch und den Quälgeist verscheucht.
Aufatmend hatte ich mich zurückfallen lassen.
Bis zum nächsten Angriff, der immer gerade dann
eingeleitet wird, wenn meine Aufmerksamkeit nachlässt
und sich mein Geist ein wenig entspannt.
Ich
spüre wie der Ärger in mir hochsteigt. Ärger
nicht so sehr über die Mücken, in deren
angestammtes Jagdgebiet ich mich ja freiwillig vorgewagt
hatte sondern darüber, dass ich mich nur mit
meinen läppischen deutschen Mückenmitteln
bewehrt in diese urzeitliche Natur, wo eben die Regeln
der Natur gelten, somit also der Stärkere überlebt.
Sicher,
der Mensch ist ein Teil der Natur. Ich stehe voll
und ganz hinter dieser Aussage oder ist es vielleicht
eine Ansage gegenüber der Natur? Egal, ich fühle
mich als Teil der Natur und halte nichts von denen,
die sich als Eroberer und Gebieter und Herren der
Welt fühlen. Andererseits hat die Natur den Menschen
mit der Gabe ausgestattet, sich selbst und seine Umgebung
kritisch zu betrachten, und etwas, das ihm nicht gefällt,
zu ändern. Dadurch ist wohl der Wahn entstanden,
der Mensch könne sich die Natur untertan machen.
Doch die Natur schlägt zurück. Sie schlägt
kurz und hart oder lang und ausdauernd, sie hat die
Schnelligkeit eines Tigers oder die zähe Ausdauer
eines Vulkans.
Zuletzt
bleibt immer die Natur Sieger über den Wahn des
Menschen. Denn immer wieder wird der Mensch daran
erinnert, dass sich die Natur nicht kampflos geschlagen
gibt, sondern ihn herausfordern wird in seinem Bestreben
sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen. Im Grossen
und im Kleinen. In Katastrophen wie Dürre oder
Überschwemmungen aber auch durch Plagen wie Ungeziefer
und eben Mücken. Von einem solchen hoffnungslosen
Kampf gegen die Urgewalt der Natur handelt dieser
Bericht.
Ich
habe bereits meine Reserven erschöpft, meine
Phantasie ist ausgelaugt und die Reste meiner Ruhe
scheinen einer nervösen Negativstimmung Platz
machen zu wollen. Andererseits, was können Mücken
am wenigsten vertragen? Rauch. Vielleicht helfen ein
paar Scheite im Kanonenofen. Es ist zwar überhaupt
nicht kalt oder auch nur frisch, die Sonne schickt
ihre wärmenden Strahlen durch das Fenster trotz
der späten Stunde - es ist inzwischen weit nach
Mitternacht, aber nichts soll unversucht bleiben um
diesen Mückengeschwadern Einhalt zu bieten.
Etwas
Birkenrinde dient als Papier, es erleichtert das Anzünden
ungemein, dann ein paar kleinere Späne und schon
flackert ein Feuerchen im Ofen. Wie oft hatte ich
mich über Öfen geärgert, die Ihren
Rauch absolut nicht durch den dafür vorgesehenen
Kamin abschicken wollten, sondern ihn immer wieder
in den Raum husteten. Dieses Öfchen scheint die
vielgerühmte Ausnahme zu sein: Brav zieht der
Rauch durch den Kamin, nicht das geringste kleine
Wölkchen will sich im Raum verbreiten. Dafür
drückt der Wind den Rauch vor die Hüttentür
und als ich Holz holend die Tür öffne, kommen
alle Mücken, die sich vor der Tür versammelt
haben herein, um die rauchfreie Luft in der Stube
zu geniessen. Gemeinsam mit mir. Wie hatte doch Bertil,
ein älterer Herr in Nattavaara, dem kleinen Ort,
den ich kurz zuvor besucht hatte, gesagt: "Im
Norden bist du nie allein".
Er
hatte damit auf die ständige Anwesenheit der
Mücken abgezielt. Diese hier am Polarkreis scheinen
zu einer ganz besonders geselligen Art zu gehören.
Wie einen lange verlorenen Freund umsurren sie mich
und flüstern mir die schönsten Liebeserklärungen
ins Ohr. Viele können sich gar nicht beherrschen
und wollen mir ganz nahe sein. Sie setzten sich auf
jede freie Hautstelle und beginnen verzückt zu
geniessen. Wusste gar nicht, dass ich so beliebt bin!
Schmollend ziehe ich mich ob der negativen Resultats
meines Ofenexperiments wieder in den Schlafsack zurück.
Denkste.
Inzwischen
ist es im Raum dermassen heiss geworden, dass an einen
Rückzug in den Schlafsack nicht zu denken ist.
Ich ärgere mich masslos über meine Überheblichkeit.
Per Erik, ein Waldsame, der mich am Nachmittag ein
wenig im Wald umhergeführt hatte, hatte mir noch
sein Dschungelöl "echt, noch von der Zeit
als das Originaldschungelöl nicht verboten war"
angeboten und hatte es noch dazu mit Teeröl versetzt.
Ich hatte es denn auch benutzt und mich ordentlich
bekleckert. Untrügliche Spuren waren auf meiner
Jacke zurückgeblieben. Daher hatte ich dankend
abgelehnt als er mir sein Fläschchen angeboten
hatte. Diesen Übermut bereue ich jetzt zutiefst.
Fünfe auf einen Streich. Wenn das das tapfere
Schneiderlein wüsste!
Allzu
tapfer fühle ich mich nicht, ganz im Gegenteil,
ich suche fieberhaft nach einem Ausweg. Hm, vielleicht
mögen sie keine hellen Farben. Ich hole aus dem
Rucksack mein letztes einigermassen weisses T-shirt
und winde es fachgerecht über den Kopf. Die Hände
vergrabe ich in den Hosentaschen und die Füsse
in dicke Socken. Funktioniert, bis auf das kleine
Problem, dass ich keine Luft kriege.
Wie
ein Ertrinkender recke ich meine Nase aus dem Schleier,
zur grossen Freude meiner neuen Freunde, die schon
ganz ratlos ob meines plötzlichen Verschwindens
suchend umhergeirrt waren. Jaja, bedient euch nur,
ich spende gern mein Blut, wenn ihr euch daran gütlich
tun wollt, bitte sehr. Ich schaue aus dem Fenster
und freue mich über die Sonne und die Wolken
und das tolle Monument, das ein Kunstschaffender des
Ortes hier am Polarkreis aufgestellt hat. Übrigens
das einzige von Hand geschaffene Kunstwerk im ganzen
Rånetal. Alle anderen Kunstwerke oder was ich
dafür halte sind Werke der Natur.
Erlebnis
Elchwiese
Nach
einer Nacht, die sich erst gegen den frühen Morgen,
wenn es den Mücken zu kalt wird, zu einer ruhigen
Nacht mausert, steuere ich mein Gefährt über
die enormen schneisenartigen Strassen nach Valvträsk,
wo mich Håkan Landström von Nordguide erwartet.
Die
Strasse ist kerzengerade durch den Wald geschlagen
und nicht erst hier kommt mir die Idee, dass sich
diese Gegend eigentlich hervorragend mit dem Fahrrad
erkunden lasen müsste. Mit dem Zug nach Nattavaara,
dort ein Fahrrad gemietet und einer Woche hautnahen
Naturerlebens steht nichts mehr im Wege. Nach einer
Woche und zweihundert Kilometern durch das Flusstal
des Råneflusses ist man in Boden, steigt zufrieden
in den Zug Richtung Süden und fährt nach
Hause. Diese Woche wird gespickt mit MTB-Abschnitten,
Kanutouren und kleinen Wanderungen.
Ein
strahlend blauer Himmel wölbt sich über
mir und trotzdem ich nicht unbedingt meine acht Stunden
Schlaf gefunden habe, fühle ich mich frisch und
munter. Mir hatte das einmal ein Bewohner der Breitengrade
nördlich des Polarkreises so erklärt: "Im
Sommer brauchen wir fast gar keinen Schlaf, die Natur
und die Sonne erfüllt uns mit so viel Energie,
dass wir uns fast die ganze Zeit wach halten können.
Dafür schlafen wir dann im dunklen Winter mehr".
Da könnte etwas dran sein, denn meine Sinn sind
gespannt und ich bin völlig klar im Kopf und
aufmerksam.
Das
zahlt sich aus, denn gerade komme ich an einem früheren
Kahlschlag vorbei, und ich weiss aus Erfahrung, dass
es sich hier um eine "Elchwiese" handeln
könnte, denn die Birken, die hier zuhauf wachsen,
sind Leckerbissen für den König des Waldes,
als ich auch schon zwei Jungtiere erblicke. Sie tun
sich vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt
an den jungen saftigen Trieben gütlich.
Ich
glaube, an den Tieren des Waldes in freier Wildbahn
werde ich mich nie satt sehen können. Ich halte
daher an und beobachte die beiden. Dick und rund sind
sie und lassen sich nicht stören. Erst als ich
vorsichtig näherkommen will, stutzt der eine,
seine Lauscher spielen, aber er bleibt stehen und
schaut mich nur an. Auch sein Kollege erstarrt zur
Salzsäule. Wie nahe ist wohl ihre Bequemlichkeitszone?
Ich komme näher und näher und eigentlich
ist das nicht sehr klug, was ich hier mache, denn
bald schon ist der Rückweg bei weitem länger
als der Abstand zu den beiden. Und eine Elchkuh kann
ganz schön wild werden, wenn man sich allzu sehr
für ihr Junges interessiert. Aber diese beiden
hier ziehen sich zurück. Wie auf Kommando drehen
sie sich um und staksen mit ihren langen Beinen davon.
Lustige
Kanutour auf dem spannenden Råneälv
In
Valvträsk wartet bereits Håkan mit dem
Kanu auf dem Dach seines VW Golf Combi. Er sieht aus
wie ein Wikinger mit seinen langen blonden Haaren
und ist wildnismässig in braunen Drillich gekleidet.
Er erklärt mir kurz die Strecke, die er für
heute geplant hat, dann fahren wir an die Ausgangsstelle.
Dort lassen wir mein Auto stehen und mit seinem fahren
wir weiter.
Wir
haben eine kurze Tour vor, die uns über einige
Stromschnellen führen soll. Das passt mir ganz
ausgezeichnet, denn es ist immer gut, wenn man mit
einem Profi unterwegs ist, denn ein bisschen was kann
man immer dazulernen. Und Håkan ist ein Profi.
Das merke ich nicht zuletzt an seiner ruhigen Art,
wie er seine Worte wählt.
Trotz
seiner jungen Jahre, er dürfte noch keine dreissig
sein, strahlt er eine Ruhe aus, wie sie nur die Erfahrung
und ein gesundes Selbstvertrauen mit sich bringt.
Und der Umgang mit reichen Leuten. Denn Håkan
organsiert "Wildnisabenteuer" für Firmen,
also Incentive und solche Sachen, mit denen Firmen
sich bei ihren verdienten Mitarbeitern vom Starverkäufer
aufwärts für deren selbstlosen Einsatz erkenntlich
zeigen.
Und wenn sich dann so ein Supermanager in der Natur
anstellt wie der erste Mensch und klein wird wie ein
Zwerg, naja, dann wächst natürlich das Selbstvertrauen
derer, die sie führen. Irgendwie logisch.
Håkan
hat also schon viele Kunden geführt. Seine Ausrüstung
ist tiptop in Schuss. Das Angelzeug ist in einer Plastikhülle,
die wiederum bequem an einem Riemen um die Schulter
getragen werden kann. An der Schwimmweste baumelt
ein kleines Messerchen, sie ist zugleich eine kombinierte
Anglerjacke mit hunderttausend Taschen.
Das
Kanu ist ein Coleman outback, was mich freut und wieder
beweist wie serviceminded Håkan ist, denn meine
Firma heisst ja auch outback.
In
Aspliden, wo wir unsere Paddeltour starten, ist der
Fluss ganz ruhig, fast wie ein See. Recht tief und
ich bin froh über meine Schwimmweste. Es gibt
übrigens einen hervorragenden Paddelführer
für den gesamten Rånefluss, wo jeder einzelne
Flussabschnitt eingezeichnet ist und erklärt
wird. Auch die Stromschnellen sind eingezeichnet und
bewertet. Hier im Oberlauf ist von Stromschnellen
keine Spur. Ein paar weisse Wölkchen spiegeln
sich im Wasser, rechts und links erstreckt sich kilometerweit
der Wald.
Håkan erklärt mir die Paddelschläge.
"Die Hand, die am Griff liegt, wird in Stirnhöhe
nach vor geführt, dann stichst du das Paddel
ein und ziehst kräftig durch", höre
ich seine Stimme hinter mir. Leichte Missbilligung
schwingt mit, denn ich habe, im Vertrauen darauf,
dass der Fluss mir die Arbeit abnimmt, das Paddel
mehr pro forma ins Wasser gehalten. Doch hier ist
Arbeit angesagt. Ich tue, wie Håkan sagt und
so ziehen wir ein wenig schneller durchs Wasser. Bald
schon finden wir unseren Rhythmus und ich entspanne
mich und fange an zu geniessen.
Eigentlich gibt es nichts Schöneres als eine
Paddeltour. Du sitzt mehr oder weniger bequem, brauchst
nichts zu schleppen, siehst enorm viel und wenn du
hungrig wirst, legst du an, machst ein Feuer, isst
etwas und dann schlägst du an einem schönen
Plätzchen dein Zelt auf und schläfst zufrieden
einem neuen Tag voller Abenteuer entgegen.
In
einer Bucht des Flusses kurz vor der ersten Stromschnelle
legen wir an. Håkan packt die Angel aus und
fragt beiläufig, ob ich denn viel angeln würde.
Beschämt muss ich verneinen, denn Angeln ist
nun wirklich nicht mein Sport. Ich halte es auch gar
nicht für einen Sport, obwohl ich mich jetzt
wahrscheinlich als ganz untypischer Nordlandfan outen
werde.
Ich
habe zwar schon ein paar mal eine Angel in der Hand
gehalten, auch schon am Dalälven Fliegenfischen
versucht, aber es ist bis jetzt immer beim Versuch
geblieben.
Doch Håkan ist so stolz auf sein Angelgerät,
dass ich ihm den Spass nicht verderben will und mich
brav hinstelle und die Angel nach seinen Anweisungen
auswerfe, und dann wieder einhole, und wieder und
wieder. Dabei ist es sicher zu heiss zum fischen und
der Hecht grundelt irgendwo am Boden herum und kümmert
sich nicht um meinen Köder. Während ich
mich solcherhand amüsiere, spaziert Håkan
den Fluss entlang und inspiziert die Stromschnelle.
Stromschnelle ist vielleicht zu viel gesagt, das Wasser
kräuselt sich und einige Wellen künden von
verborgenen Steinen.
"Na, was ist, packen wir's?" fragt er, als
er zurückkommt. Klar packen wir's. Ich will doch
nicht das Kanu durch den Wald tragen. Håkan
wäre nicht der gute Führer, würde er
nicht pädagogisch fragen, wie ich die Stromschnelle
angehen würde. "Naja, das ist klar, dort
drüben fliesst der Strom schneller und hier herinnen
lauern hinterlistige Steine. Vielleicht in der Mitte?"
Håkan
lächelt. Freundlich. Nachsichtig, wie der verständnisvolle
Lehrer einem seiner minder begabten Schüler zulächelt:
"Siehst du das V, das der Strom bildet?"
Ich sehe kein V. Erst auf ein Handzeichen sehe ich,
dass sich die Wellen wirklich zu einem V verjüngen.
"Immer genau in dieses V, also auf die Spitze
des V mit dem Kanubug hinhalten, dort sind zwar oft
Wellen, aber die sind nur Wasser, dort sind keine
Steine," erklärt er.
Passt,
das ist sicher eine enorm nützliche Information.
Vorsichtig nehmen wir Platz, denn hier ist der Fluss
ganz schön tief, dann legen wir ab und halten
auf das V zu. "Paddeln, paddeln". Schwupp,
es schaukelt ein bisschen und schon sind wir durch.
Lobende Worte von der Rückbank, ich weiss zwar
nicht wofür, aber freue mich trotzdem.
Kurze Zeit später kommen noch mehrere Stromschnellen.
Jetzt gehen wir gemeinsam rekognoszieren. Das sollte
man immer tun, denn auch wenn man einen Fluss kennt,
so herrschen doch nie die gleichen Bedingungen. Einmal
ist viel Wasser, dann wieder wenig und so ist es immer
gut, wenn man Stromschnellen vorher anschaut. Anlegen,
Kanu heraufziehen, anschauen, geht es oder nicht?
Meistens geht es, V suchen, drauf hinsteuern, paddeln,
Augen zumachen und durch. Weisse Wellen sind stehende
Wellen und ein Zeichen für tiefes Wasser, also
keine Steine und somit ungefährlich.
Mich
erstaunt immer wieder, wie schnell alles geht. Kaum
dass das Kanu schaukelt, so rasch sind wir durch.
Håkan ist geprüfter Kanuführer und
er erzählt, dass die Probanden bei der Prüfung
den Kukkolaforsen, eine berüchtigte und in ganz
Schweden bekannte Stromschnelle am Tornefluss durchschwimmen
müssen. "Damals habe ich geglaubt, mein
letztes Stündchen ist gekommen," lacht er.
"Du musst dir vorstellen, da liegst du auf dem
Rücken, die Beine nach vor gestreckt, damit du
bei den grossen Steinen nicht mit dem Kopf zuerst
anstösst, das Wasser dröhnt und donnert,
vor dir türmen sich die Stromschnellen haushoch
auf, eine Welle taucht dich unter, du schnappst verzweifelt
nach Luft, da kommt schon die nächste, es ist
ein brausendes Inferno."
Später
kommen wir zur grössten Stromschnelle des Råneälven,
gischtend weisse Wassermassen brausen unter einer
Brücke durch eine ziemlich enge Schlucht und
werfen sich donnernd in einen See. Unter der Brücke
sind grosse Walzen, das nennt man so in der Fachsprache,
wenn sich das Wasser in sich selber gegen die Fliessrichtung
dreht. "Hier bist du runter?" "Ja,
aber nur einmal," meint Håkan. Meine Achtung
steigt. Na, dann traut er sich schon etwas.
Nach
dieser zweiten Stromschnelle kommen wir zum See Valvträsk.
Das ist ja das Schöne an den nordischen Flüssen,
sie verbreitern sich immer wieder zu Seen. Wir steuern
auf eine bewaldete Insel zu, ein kleines Häuschen
leuchtet rot zwischen den hellen Kieferstämmen
hervor. Hierher kommt Håkan mit seinen Kunden
und es wird gegrillt. Genau das wollen wir auch machen.
Wir
legen an, ziehen das Kanu zur Hälfte aus dem
Wasser, ich mache ein Feuer, während Håkan
vier Saiblinge aus den tiefen seines Rucksacks zaubert.
Ein bisschen Salz und Pfeffer, ein Hauch von Thymian,
mehr braucht es nicht, meint er. Håkan ist auch
ausgebildeter Wildkoch. Fladenbrot, mit Tomatenmark
rot gefärbt, es gibt auch grünes von Spinat,
dient als Teller.
"Den
Fisch auf geringer Hitze langsam grillen, dann schmeckt
er am besten und bleibt schön saftig. Bei zu
hoher Hitze wird er aussen hart und bleibt innen roh,"
erklärt er. Er kocht ebenso gut wie er paddelt.
Fachmännisch zerteilt er den Fisch und legt kleine
Stücke davon aufs Brot, das wird eingerollt und
genossen. Der Fisch zergeht auf der Zunge. Ein echter
Leckerbissen!
Danach
paddeln wir zu unseren Autos zurück. Immerhin,
so kurz der Ausflug mit Håkan war, von der Paddeltechnik
bis zum Verhalten beim Kentern - auf den Rücken
legen, Beine nach vor, bis zum Saiblinggrillen habe
ich in den knapp vier Stunden gelernt. Ein Schnellkurs
im Wildnislebensstil.
Beim
zurückfahren kann ich mich noch schnell revanchieren,
als plötzlich aus dem linken Vorderrad von Håkans
Auto die Luft entwicht. Ruckzuck wird der Reifen gewechselt
und wir fahren flussabwärts zu dem Hüttchen,
wo ich diese Nacht verbringen werde.
Menschen
am Fluss
Hier
in Överstbyn hat Åke Selberg auf einer
Halbinsel am Strand des Råneflusses mehrere
Hütten gebaut. Eine Schlafhütte steht da,
eine Sauna und ein Plumpsklo mit zwei Plätzen,
damit man sich unterhalten kann. Vor den Hütten
befindet sich eine grosse gemauerte Feuerstelle, wo
bald schon ein lustiges Feuer flackert. Håkan
zeigt mir noch vorher erwähnte waghalsige Stromschnelle
und dann verabschiedet er sich. Er fährt mit
seiner Frau und seiner drei Monate alten Tochter in
sein Sommerhäuschen am Tornefluss - fischen.
Ich
mache einen kleinen Spaziergang und als ich zurückkomme
sitzt Åke Selberg bereits am Feuer und kocht
Kaffee in einer kleinen arg verrussten Kanne. Åke
ist ein vierschrötiger Hüne von einem Mann,
um die sechzig, einen Lederhut verwegen ins Gesicht
gedrückt, ähnelt er Jock aus der Fernsehserie
Dallas.
Ruhig
und bedacht, mit einer Ausstrahlung, wie sie nur Körperstärke,
Besitz und lange Ausübung von Macht verleihen.
Åke war bis vor kurzem Abgeordneter im schwedischen
Parlament und hat sich erst vor kurzem beurlauben
lassen. Er ist jovial und erzählt gleich frei
von der Leber weg.
Von
Göran Persson, seinen Reichstagskollegen, gemeinsamen
Erlebnissen und beleuchtet vor allem die menschliche
Seite der Leute, die man sonst nur aus der Zeitung
und den Medien kennt. Åke ist ein guter Erzähler
und die Zeit vergeht im Flug. Nach einiger Zeit gesellt
sich sein Sohn zu uns, gefolgt von seiner Frau und
zwei kleinen Mädchen, die müde sind nach
einem Tag auf dem See. Sie waren fischen. Es ist Sommer,
Ferienzeit, Urlaubszeit.
Machen
wir eine kleine Runde auf unserem See, meint Åke.
Deine Sachen legst du gleich in die Hütte."
Im Plastikboot mit Aussenbordmotor dreht Åke
ordentlich am Gashebel und wir fliegen gleich so übers
Wasser. Auch hier hat sich der Rånefluss verbreitert
und mehrere kleine Seen gebildet. Hin und wieder stehen
kleine Häuser am Ufer. Åke weiss zu jedem
Haus und zu jedem der Bewohner eine kleine Geschichte.
Da wohnt ein Eishockeycrack, dort ein Verwandter.
Åke
ist hier geboren und hat seine Kindheit hier verlebt.
Er ist mit der Natur verwachsen. Es wäre ihm
nie im Leben eingefallen, nach Stockholm zu ziehen,
trotzdem er dort die letzten zwanzig Jahre tätig
war. "Ich bin brav jedes Wochenende nach Hause
geflogen und am Montag in der Früh wieder nach
Stockholm gefahren", erklärt er stolz.
Åkes
Haus liegt auf der meiner Insel gegenüberliegenden
Seite des Flusses. Eine Strasse gibt es erst seit
den Siebzigerjahren. Früher musste man mit dem
Boot zur Schule rudern oder im Winter über den
gefrorenen See mit den Schiern laufen.
Dafür ist heute der Hof voll modern. Trotzdem
Åke eigentlich sein Otium geniessen könnte
ist er voller Ideen und Tatendrang. So hat er eine
Firma gegründet und stellt Lappenzelte, also
die typischen Indiandertipis her, sein Sohn hilft
ihm dabei. Eine riesige Schweinezucht hat er auch
schon gehabt und edle Kanus aus Holz gebaut.
"Der
Mensch kennt keine Grenzen. Grenzen sind nur ein Mangel
an Phantasie" ist sein Wahlspruch. Grosszügig
wie die Nordländer nun einmal sind, lädt
er mich zum Essen ein. Anna Greta steht an der Tür
und auch hier ist die Ähnlichkeit mit Dallas
unverkennbar. Ruhig und freundlich zuvorkommend und
diskret um den Gast bemüht wie Miss Elly. Im
Haus sind andere Gäste, Töchter mit Anhang,
Verwandte, Bekannte, es ist ein ständiges Kommen
und Gehen.
Der
Sommer macht wirklich alles wett, was im harten und
langen Winter den Menschen hier die Einsamkeit bringt.
Im Sommer blühen sie auf und sind quicklebendig
und alles redet und lacht durcheinander. "Das
hat bei uns Tradition," meint Åke, "das
war schon so, als meine Eltern noch gelebt haben.
Bei uns ist es zugegangen wie in einem Wirtshaus,
immer waren Gäste da."
Das
Angeln nimmt einen wichtigen Platz ein im Leben der
Menschen hier am Fluss. Åke kommt mit einem
Echolot daher und auch mit einem völlig neu entwickelten
Ding, einer Art Kamera, die in das Wasser hinuntergelassen
wird und auf einem kleinen Schirm sieht man die Fische
in er 25 Meter Tiefe. "Für dieses Insrument
habe ich die Rechte gesichert", erklärt
Åke.
Auf
dem Weg zurück zu meiner Hütte kommen wir
an einem älteren Par vorbei, das in einem kleinen
Boot sitzt und trotz der späten Stunde angelt.
"Das sind unsere kleinen Freuden", meint
Åke. Trotzdem wir uns nur ein paar Stunden getroffen
haben, habe ich das Gefühl, mich von einem guten
Freund zu verabschieden. So herzlich sind die Flussbewohner
des Råneflusstals.
In
der Hütte hole ich zunächst einmal die leere
Bierdose in die Ulf, ein Schwiegersohn Åkes,
ein Loch geschnitten hat für ein Teelicht, stelle
sie auf den Tisch, entzünde das Teelicht und
lege eine Tablette, die mir vorsorglich von Anna Greta
in die Hand gedrückt hat, als sie von meiner
Mücken geschwängerten letzten Nacht hörte,
auf die Oberfläche der Dose.
"Das
hilft, den Geruch mögen die Mücken nicht",
meinte sie. Es stimmt, diese Nacht verbringe ich ruhig
wie in Abrahams Schoss und erwache frisch und ausgeruht
ohne einen einzigen Mückenstich und ohne Gesurre
im Ohr. Erst als ich mir die Verpackung genauer ansehe,
komme ich drauf, dass eine italienische Firma diese
Tabletten herstellt. (sterminio extra, mit "grande
eficacio", also die grosse Wirksamkeit kann ich
bezeugen). Eine Tablette hält die gute Stube
eine ganz Nacht lang mückenfrei.
Auf
den Hund gekommen
In
Överstbyn folge ich einem Tip von Håkan
und besuche Lars-Ola und seine Frau Britt Marie im
"Vildmarksgården". Lars Ola ist nicht
irgendwer, sondern mehrfacher schwedischer Meister
im Schlittenhundefahren. Er hat so ziemlich alles
gewonnen, was es zu gewinnen gibt und hat sicher erst
letzten Winter vom Hochleistungssport zurückgezogen.
Lars
Ola baut gerade. Das Bauen scheint überhaupt
zu den liebsten Beschäftigungen der Menschen
am Fluss zu zählen. Wo man auch hinkommt, überall
wird fleissig gewerkt. Lars Ola baut eigenhändig
eine Hütte für seine Hundeschlitten. Die
Stämme hat er im Wald gefällt, entrindet,
entästet auf die richtige Länge geschnitten
und jetzt baut er sich in alter Holzbautechnik zuerst
einen Stall für seine Hundeschlitten, dann ein
neues Haus.
Auf
seinem Grundstück, das direkt an den Wald grenzt,
flackert bereits ein gemütliches Feuer, wo Britt
Marie Fische räuchert und wir nehmen Platz und
lassen uns ein paar geräucherte Saiblinge schmecken.
Lars Ola macht einen extrem energischen Eindruck.
Der ganze Mann ist ein Energiebündel. Seine Augen
blinzeln vergnügt und seine Energie scheint auch
die Umgebung anzustecken. Alles vibriert gleichermassen.
Ich
kann mir sehr gut vorstellen, welch enormer Siegeswille
diesen Mann angespornt hat und wie dieser Wille sich
auf seine Hunde übertragen hat. "Ich habe
alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, und dann
habe ich mir gedacht, ich trete besser jetzt ab als
wenn ich zu verlieren anfange", erklärt
er. Dabei ist er noch jung. Schaut aus wie dreissig
ist aber doch schon an die vierzig.
Es
ist interesant wie es immer den Bewohnern von Orten
und Tälern überlassen bleibt, aus ihrer
Heimat etwas zu machen. Sicher, der staat oder die
EU kann durch Förderungen unterstützend
eingreifen, doch einen beschaulichen Ort mit dem ausstatten,
was der Gast braucht, und vor allem, diese Gäste
dann zu verwöhnen und wohlfühlen lasen,
das kann nur der Mensch. Lars Ola und Britt Marie
haben grosse Pläne. Beide sind sich bewusst,
dass hier in Överstbyn an Übernachtungsmöglichkeiten
mangelt, denn in Åke Selbergs Hütte kriegen
ja gerade 4 Mann Platz.
Daher
wollen sie hier auf ihrem "Vildmarkshof"
eine Art Gasthof aufziehen, wo der Reisende Unterschlupf
findet für einen Tag oder eine Woche ihn verköstigen
und so en passant auch mit den Hunden bekannt machen.
Ich werde spontan auf geräucherte Saiblinge Salat
und das berühmte nordische Fladenbrot eingeladen,
wir sitzen im Freien und schauen über die blumenübersäte
Wiese und dahinter den schweigenden Wald. Mit fällt
auf, dass die Hunde nicht ein einziges Mal gebellt
haben. "Das ist nur eine Erziehungssache,"
Meint Lars Ola, "das war auch sicher einer meiner
Vorteile am Start, wenn meine Hunde völlig ruhig
dagestanden sind während sich die Konkurrenten
gegenseitig verrückt gemacht haben".
Toll,
wie dieser Mann an alles denkt und in Britt Marie
sein ruhiges Pendant gefunden hat. Seit 25 Jahren
sind die beiden nun schon verheiratet und noch immer
sehen sie sich liebevoll an und versuchen sich gegenseitig
jeden Wunsch von den Augen abzulesen. So kann sich
Lars Ola denn auch nicht halten und meint zu mir:
"Sind die Fische nicht hervorragend? Ich finde,
es gibt niemanden, der Britt Marie in der Kunst des
Fischeräucherns übertrifft". Ich kann
ihm nur zustimmen.
Interessant
ist auch, wie die Kinder der Menschen hier heroben
an der Grenze zur Wildnis gefordert werden. So ist
der älteste Sohn von Bernhard und Diana Zimmer
nordschwedischer Meister im Florettfechten und Lars
Olas und Britt Maries Sohn ist ein hervorragender
Karatekämpfer. Dabei wird den Kindern absolut
nichts geschenkt: zur Schule müssen sie nach
Boden, das ist etwa 50 km entfernt und die Volksschule
von Överstbyn wird überhaupt in Ermangelung
an Schülern nur zweiklassig geführt.
Wieder
bestätigt sich meine Theorie, wonach der Mensch
mit der Aufgabe wächst, soferne er nur richtig
motiviert ist. Nur ungern verlasse ich das gastliche
Haus von Lars Ola und Britt Marie und im Rückspiegel
blicke ich noch lang zurück auf die zwei Figuren,
die immer kleiner werden und dann wieder an die Arbeit
gehen. Es muss noch so viel gebaut werden ehe der
harte winter kommt.
Malmens
Väg
Malm
ist das Erz und Malmens Väg ist der Weg, den
das Erz von den Fundstellen in Gällivare Malmberget
genommen hat um an die Küste zu gelangen, wo
es verarbeitet wurde. Den Transport des Erzes war
von Anfang an der samischen Bevölkerung übertragen
worden, die mit ihren Rentieren und ihren Akkjas,
also Rentierschlitten, diese Aufgabe gern übernahmen.
Auf diesem Malmens Väg wurde Erz von Ende des
17. Jahrhunderts bis zum Bau der Eisenbahn Ende des
19. Jahrhunderts durchgeführt. Dann fiel der
Weg der Vergessenheit anheim, bis ein paar findige
Köpfe und enthusiastische Motorschlittenfahrer
auf die Idee kamen, den Malmens Väg als Skoterpfad
zu neuem Leben zu erwecken.
Einer
dieser Männer ist Hans Lidberg. Er erwartet mich
in Niemisel einem kleinen Ort ein paar Kilometer südlich
von Gunnarsbyn. Hans ist ein lustiger Mann mit Kinnbart,
mittelgross und einem ansteckenden, fröhlichen
Lachen. Er war früher bei der Eisenbahn, hat
sich aber dort beurlauben lassen um sich um den Malmens
Väg zu kümmern. Man glaubt gar nicht, was
es da alles zu tun gibt: Schilder wollen gemalt und
aufgestellt werden, der Weg muss frei gehalten werden
vor lästigem Baumbewuchs, nach dem ersten Schnee
muss die Spur präpariert werden mit einem Pistengerät
und, als Höhepunkt, die frühere Umladestation
"Spiken" ist in Schuss zu halten.
Zu
dieser Umladestation sind wir jetzt unterwegs. Auf
dem Weg erzählt Hans Lidberg wie das Erz von
Samen gefunden wurden, die ein paar Erzproben dem
Pehr Andersson zeigten. Pehr Andersson gilt somit
als Entdecker des Erzes. Doch erst einem guten Freund
seines Sohnes Anders war es vergönnt, etwas aus
diesem Funden zu machen. Carl Johan Thingwall steckte
sich einen Calim ab. Nur fehlte ihm das Geld, um seinen
Claim auch wirklich zu bearbeiten.
Daher
verkaufte er seine Rechte An Abraham Steinholtz und
Jonas Meldercreutz. Letzterer schliesslich blieb es
überlassen, den Erzabbau und seine Verarbeitung
so richtig anzukurbeln. Meldercreutz gründete
eine Reihe von Orten entlang dem Malmens Väg,
er kümmerte sich um den Erzabbau, den Transport
und schliesslich gründete er auch eine Erzröstanlage
im Ort Råneå. Nebenbei war er noch Offizier
in Stockholm und später wurde er Professor für
Mathematik an der Universität Uppsala.
Nachfolger
Meldercreutz' war Samuel Gustav Hermelin. Hermelin
war eigentlich Kartograph und ist der erste der eine
umfassende Karte über das Lappland und Västerbotten
erstellt hat. Hermelin ist vielleicht derjenige, der
sich am meisten um die "Kolonisierung",
das vor allem als Kultivierung des Nordens verdient
gemacht hat.
Spiken
wurde also von Jonas Meldercreutz angelegt und ist
die beste heute erhaltene Umladestelle des Erzes.
Die Rentierzüge der Samen kamen hierher, verluden
das Erz auf die Pferdeschlitten der Bauern, bleiben
wohl eine Nacht und machten sich dann auf den kilometerlangen
Rückweg. Diesmal waren ihre Akkjas mit Naturlaien
wie Mehl, Salz, Tabak und Silber beladen. Die Bauern
erhielten ihren Fuhrlohn in Form von Kupfermünzen.
Spiken
hat zwar bis heute keinen Strom, doch ist das Wohnhaus
zu einem modernen Gebäude mit mehr als zwanzig
Betten aufgerüstet.
Spiken
wird im Sommer an Sportangler vermietet die im kleinen
Flüsschen Spikälven ihr Glück versuchen.
Im Winter wohnen natürlich die Skoterfahrer hier
und im Herbst die Elchjäger, wenn die Wälder
zwei Wochen lang widerhallen vor den Gewehrsalven
der zahlreichen Hubertusjünger.
Hans
Lidberg ist ein grosser Jäger und er lässt
es sich nicht nehmen, mir seine Trophäensammlung
zu zeigen: Geweihe jeder Grösse und man muss
sagen es sind kapitale Trophäen darunter hängen
an der Wand der Garage, und im Wohnzimmer sind die
wirklich schönen Exemplare an die Wand genagelt.
Es sind sicher mindestens zwanzig Trophäen, die
hier von einem langen Jägerleben mit viel Jagdglück
und reichen Elchjagdgründen erzählen. Hans
freut sich, als er von seinem dreijährigen Enkel
erzählt, der auf das Stichwort: "Was macht
man mit dem Elch?" ein ernstes Gesicht zieht,
die Arme gekonnt hochhebt und "Peng" ruft.
Das freut den Grossvater, dass sein Enkel wie er ein
grosser Jäger werden wird.
Das
Råneflusstal ist somit ein gutes Beispiel dafür,
dass es in unserer überzivilisierten Welt immer
noch Stellen gibt, wo der moderne gehetzte, stressbeladene
Mensch seine himmlische Ruhe findet. Hier haben die
ortsansässigen Bewohner des Tales gelernt, mit
der Natur zu leben und werden sich erst langsam bewusst,
welchen Schatz sie damit besitzen. Jetzt gilt es,
schonend und langsam diesen Schatz anderen Menschen
zugänglich zu machen. Bisher ist es den Menschen
im Råneälvtal gelungen, die Natur intakt
zu halten und genau das zu bewahren, wonach der moderne
Gast verlangt: Ruhe, Einklang mit der Natur und auch
eine gewisse Härte zu sich selbst - denn erst
im Kampf mit den Mücken zeigt sich der wahre
Held!
Nützliche
Adressen:
Nordguide
Håkan Landström
Parkvägen 10 B
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel: 0046 70 600 53 03
nordguide@ranealvadal.com
Nattavaara
Heimatverein (Hütten)
Box 38
S-982 07 Nattavaaraby
Tel. 0046 970 410 20
Ntv.hbf@beta.telenordia.se
http://www.lapplandsinfo.nu/nattavaara/
http://www.torget.se/users/v/venet/
Råne
Älvdals kansli
Parkvägen 10 B
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel: 0046 924 213 65
Fax. 0046 924 213 66
www.ranealvdal.com
www.malmensvag.com
NordCraft
(Lappentipis)
Selbstversorgerhütte in Överstbyn
direkt am Rånefluss
Åke Selberg
Nyvägen 3
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel. 0046 924 211 72
Fax: 0046 924 211 20
Handy: 070 537 82 09