Am
nächsten Morgen um halb fünf gebe ich mir einen Ruck. Ich schiebe
den Vorhang zur Seite. Hurra, es regnet nicht!
Um
fünf ist Abmarsch. lch bin allein auf weiter Flur. Auch der
Zettel, wo man die Tagestouren einschreibt, ist jungfräulich
leer. Macht nichts, einer muss der erste sein. Feinsäuberlich
trage ich Namen und Route ein.
Im
Foyer der Hütte hängt eine Reliefkarte. Ich versuche mir den
Weg einzuprägen. Weit schaut es aus. Rauf und runter und wieder
rauf. Naja, es wird schon gehen. Wie der Hochschwab in den heimatlichen
steirischen Bergen halt, nur mit einem Gletscher obendrauf.
Mein
Tagesrucksack ist voll. Mütze, Handschuhe, Schal, Extrapullover,
Biwacksack, und eine zünftige Jause mit ausreichenden Wasservorräten.
Karte und Kompass sind auch mit dabei.
Etwa
eine halbe Stunde nach der Fjällstation teilt sich der Weg.
Rechts hinauf führt steil die Ostroute zum Gletscher. Soll ich
nicht doch? Ein Blick nach oben in die graue Nebelwand belehrt
mich eines besseren. Vielleicht, wenn ich den Weg kennen würde.
Aber so, lieber ein paar Stunden länger laufen, als in einer
Gletscherspalte ein unrühmliches Ende finden.
Wasser
gibt es nach den Regenfällen des letzten Tages genug. Nach einer
guten Stunde gilt es, den ersten Bach zu durchwaten. Waten?
Ich will mir nicht jetzt schon kalte Füsse holen, laufe also
den Bach hinauf, um eine Furt zu finden. Mit dern Erfolg, dass
ich beim Überqueren des Bachs erst recht nass werde und obendrein
gleich noch den Weg verliere. Ich habe es früher schon gesagt
und sage es immer wieder: Wenn man in Schweden wandert, dann
lernt man erst die Verhältnisse in den Alpen schätzen. Von Markierungen
haben die Leute hier wohl noch nichts gehört. Von Zeit zu Zeit
ein eher zufällig aufgestelltes Steinmandl, das ist auch schon
alles. Entweder haben die Wanderer einen sechsten Sinn, oder
sie können wirklich so gut mit Karte und Kompass umgehen.
Das
mit dern Kompass habe ich sowie so nie richtig verstanden. Auch
wenn es mir nach viel Üben bereits ganz gut gelingt, Marschzahl
und Richtung auf dem Kompass anhand der Karte festzustellen,
was ist bei einem richtigen Nebel? Da fällst du ja über einen
Abhang hinunter, bevor du nur „bah" sagen kannst, wenn du nur
nach dem Kompass drauflosrennst. Aber das nur so als kleine
Anmerkung.
Nach
der Überquerung des Bach laufe ich den Hang hinunter und suche
nach dem Weg. Nichts. Grau in grau, brauner Boden, Geröll. Nur
der Bach plätschert lustig und sorglos über die Nockerln dahin.
Ich
lasse meinen suchenden Blick in die Runde schweifen. Ich befinde
mich in einern Talkessel, rechts oben hängt der Gletscher, die
Richtung ist so gut wie ausgeschlossen. Links geht es ins Tal
hinunter. Auch nichts. Dort drüben lockt ein Schneefeld. Lieber
nicht. Bleibt also nur noch die Geröllhalde schräg vor mir.
Quer über die Geröllhalde zieht sich ein Schatten. Zu Haus würde
ich das für einen Gemsenwechsel halten. Nur, hier gibt es keine
Gemsen. Könnte sich also um den Pfad handeln. Also los, nur
irgendetwas tun, nicht herumstehen. Ich steige hoch. Richtig,
dort droben ist ein Steinmandl.
Der
Nebel wird dichter. Ich steige die Schulter hoch. Immer weiter
von einem Steinmandl zum nächsten. Zwischendrin gibt es auch
verwaschene rote Punkte. Die sind wahrscheinlich noch von der
Jahrhundertwende, als das Gebiet hier erschlossen wurde.
Nach
drei Stunden fünfzehn Minuten bin ich auf einem Zwischengipfel.
Hier haben sich die Schönwettertouris damit vergnügt, viele,
viele Steinmänner zu errichten. Unheimlich lustig, wenn die
Sonne vom Himmel strahlt und hundert andere Leute hier oben
sind. Zum Auswachsen, wenn man den Weg nicht kennt, verzweifelt
die Richtung und den richtigen Steinmann sucht, während der
Nebel zum Greifen heranwächst.
Mir
wird klar, dass es sich hier keineswegs um einen Spaziergang
handelt, sondern um eine Hochgebirgstour - die sehr leicht mit
einem Desaster enden kann. Da, endlich, nach einer Viertelstunde
angestrengten Suchens eine rote Markierung. Es geht abwärts.
Das heisst, ich habe schon ein gutes Stück des Weges geschafft,
denn den Erzählungen der anderen Wanderer war zu entnehmen,
dass es sich hier um das Schlüsselstück der Wanderung handelt.
Ein Stück runter und dann wieder rauf auf den eigentlichen Berg.
An
der Sohle zwischen den beiden Bergen erstreckt sich ein kleiner
Gletscher. Nur nicht darauf kommen. Ich taste mich weiter von
Steinmandl zu Steinmandl, von Markierung zu Markierung. Was
ohne diese roten Tupfer wäre, male ich mir lieber nicht aus.
So steige ich geschwind bergan. Der Nebel wird immer dichter,
oder sind das jetzt schon Wolken? Es wird empfindlich kalt.
Mütze
und Handschuhe habe ich schon an, die Kaputze meiner Jacke wird
fester geschnürt. Jetzt müsste ich eigentlich bald einmal bei
der ,,Toppstugan", also der Gipfelhütte vorbeikommen. Nur -
wie soll ich die in dieser Nebelsuppe finden? Langsam aber sicher
verlässt mich der Mut. Ob ich je wieder aus diesem Nebel hinausfinden
werde? Und noch schlimmer: Was wird aus dem Gipfel?
Doch
da, was ist das? Zwei vermummte Gestalten bewegen sich schemenhaft
aus dem Nebel auf mich zu. Menschen! Hurra! Voll Freude eile
ich auf die beiden zu. Rufe sie an. Deutsche! Bayern!
Bei
den beiden dick vermummten Wanderern handelt es sich um Arthur
Lang und seine Tochter Karin. Die Rucksäcke, die sie da mitschleppen,
müssen Tonnen wiegen. Aus ihrer Erzählung ist zu entnehmen,
dass sie in der Gipfelhütte übernachtet haben, nachdem sie gestern
den Gipfel gemacht hatten. Ein Beisatz in der Erzählung Arthurs
lässt mich aufhorchen.
"Da
oben ist Neuschnee und der Grat kann ganz schön knifflig sein.
Hast Du Eiserln dabei?"
Ogottogottogott.
Steigeisen? Auf einen Zweitausender? Grat? Neuschnee?
,,Naja,
als Steirer schaffst du es sicher auch ohne".
Da
sieht man wieder, was für einen guten Ruf der Steirer hat.
Leo Schlömmer sei Dank. Oder Erzherzog Johann?
Karin
scheint da nicht so sicher. „Du, gestern war aber die eine
Seite des Grats ganz schön vereist".
"Jaja,
aber das geht schon. Mit ein bisschen gutem Willen", beruhigt
sie der Vater. Die beiden haben anscheinend alles mit. Von
den Schistöcken bis zu den Steigeisen.
,,Also,
du gehst einfach immer nach oben, dann kommst du zur Toppstugan.
Dort schlafen übrigens drei junge Burschen, die sind gestern
erst spät herauf gekommen. Von der Hütte immer weiter nach
oben bis zum Gletscher. Dort siehst du unsere Spuren. Und
pass' auf beim Kamm, der hat es in sich."
Ich
bedanke mich und sehe ihnen noch nach, wie sie im Nebel verschwinden.
Schade, ich hätte gerne noch länger mit ihnen geplaudert. Leute
aus Germering hier heroben. Jaja, die Welt ist klein.
Die
Begegnung mit diesen sympathischen, ruhigen und wohlwollenden
Menschen hat mir neue Kräfte gegeben. Frohgemut steige ich bergan.
Und wirklich, da ist ja auch schon die Hütte. Ich stosse die
Tür auf. Im Vorraum will ich noch ein wenig jausnen, denn allzu
weit kann es jetzt ja nicht mehr sein. Die Wiesbauerwurst und
der Emmentaler schmecken selten gut. Dazu ein Schluck Wasser.
Drinnen
rührt sich jetzt etwas. Ein verschlafenes Gesicht schaut mich
durch die Scheibe an. Ich gehe in den Schlafraum und hocke mich
an den Tisch. Einer nach dem anderen werden die drei Burschen
wach. Kein Wort fällt. Wäre ich es nicht schon gewohnt, dass
Schweden eher wortkarg sind, ich würde mich wundern. Nach geschlagenen
zehn Minuten sagt der erste Bursche „Hej".
"Alles
klar?"
"Alles
klar."
Das
war es auch schon. Ab jetzt bin ich für sie nicht mehr vorhanden.
Auch gut. Ich mache mich fertig. Draussen ist der Wind ziemlich
stürmisch geworden. Die Nebelfetzen treibt er über den Berg
wie ein irischer Wolfshund seine Schäfchen.
Hinauf,
hinauf, alles oder nichts. Nach ein paar Minuten stehe ich am
Gletscher. Vor mir ist es weiss. Hinter mir vielleicht zehn
Meter Sicht übers Geröll, dann auch weiss. Puh, Karin hat recht
gehabt. Neu-schnee. Hoffentlich finde ich die Spuren. lch laufe
am Fuss des Gletschers hin und her wie ein Jagdhund vor dem
Kaninchenbau.
Endlich
ahne ich eine braune Spur, die sich schwach unter dem Schnee
abzeichnet. Ich folge dieser matten Spur den Hang hinauf, wo
sie sich verliert. Immer wieder drehe ich mich um, damit mich
das Weiss nicht total verschluckt. Nach ungefähr zehn Metern
verliere ich den schützenden Geröllhorizont aus dem Gesichtskreis.
Jetzt kann ich nur mehr in der eigenen Spur zurück. Ich zögere.
Ist
es das wirklich wert? Ich wende und laufe den Hang hinunter.
Am Geröll angekommen bleibe ich schwer atmend stehen. Aufgeben?
Umdrehen? Ich beisse die Zähne zusammen und steige nochmals
bergan. Immer weiter. Der Hang geht in eine Mulde über, der
Wind treibt den Nebel hoch und vor mir erhebt sich ein Steilhang.
Lieber nicht. Ich folge dem Kessel und komme zu einem Abbruch.
Hier hat der Wind den Schnee weggeblasen und eine Eisplatte
versperrt den Weg nach oben. lch versuche mit meinen Schuhen
halt zu finden. Es müsste gehen. Wieder schreit alles in mir,
umzudrehen.
Nein,
umgedreht wird nicht. Ich setze den ganzen Fuss auf und taste
mich vorsichtig nach oben. Linkerhand möchte ich nicht hinunterrutschen.
Dort geht's ins weglose Nichts. Und das ziemlich steil. Nach
sieben Metern habe ich wieder Schnee unter den Füssen. Wie hatte
Arthur gesagt - über den Grat musst du drüber. Ich gehe weiter
und habe den Grat vor mir. Er erstreckt sich extrem ausgesetzt
in den Nebel hinein, wie es Grate halt so an sich haben.
Da
soll ich rüber??? Jetzt wird es ernst. In Panik drehe ich mich
um und laufe über das Eis hinunter. Nur weg. Wieder im Schnee
zwinge ich mich, stehenzubleiben. Nein, du darfst nicht weglaufen.
Du musst es versuchen. Du musst.
Ich
drehe um und gehe übers Eis zurück. Der Grat ist ausgesetzt.
Dreihundert Meter geht es runter, links und rechts. Doch immerhin,
hier sind Spuren. Nur eines stört mich. In einem Winkel meines
Gehirns, wo die grauen Zellen noch arbeiten können, stelle ich
fest, dass sich der Grat langsam nach unten neigt. Das heisst
also, ich muss drüben, wo immer das sein mag im Nebel, wieder
hoch klettern, denn der Gipfel muss ja höher sein als der, auf
dem ich mich jetzt befinde!
Das
sind Aussichten. Ich gehe ein paar Schritte vor, doch da hören
die Spuren auf. Der Schnee von gestern hat sie mit feuchtem
Neuschnee zugedeckt. Immerhin, die Löcher der Pickel sind deutlich
zu sehen. Was würde Reinhold Messner tun? Der Übermensch würde
wahrscheinlich mit den Händen in den Hosentaschen da rüber spa-zieren,
und noch ein Liedchen pfeifen.
Aber
ich? Ich komme mir klein und verlassen vor. Ich verfluche meinen
Ehrgeiz, stets einer spontanen Idee zu folgen und alles sofort
und allein zu machen. Kein Pickel, nicht einmal einen Wanderstab
habe ich. Geschweige denn Steigeisen.
Eines
wird mir inzwischen klar: der Kebnekaise ist kein Spaziergang.
Das ist ein ausgewachsener Berg, eine alpine Herausforderung
- zumindest unter solchen Bedingungen, wie sie heute herrschen.
Wenn doch nur der Nebel aufreissen würde! Nichts dergleichen
passiert, meine Gebete verhallen ungehört, der Grat verschwindet
im Nebel. Ich stecke probeweise zwei Finger in ein Pickelloch.
Hm, das müsste gehen.
Ich
drehe mich zum Berg und versuche, mit meinen extrem festen,
immerhin zwanzig Jahre alten Bergschuhen eine Stufe zu schlagen.
Es funktioniert! Die nächste Stunde kämpfe ich mich über den
Grat. Es geht immer leichter, nur zurück will ich lieber nicht
schauen. Nur nach vorn. Doch auch dort ereignet sich keine Offenbarung.
Nur die Nebelwand schiebt sich immer weiter den Grat entlang.
Wie lang ist er eigentlich?
Ich
entsinne mich einer Ansichtskarte, die ich in der Fjällstation
gesehen habe. Zwei Bergsteiger waren dort angeseilt und mit
Pickel unter einem strahlend blauen Himmel über den Grat gewandert.
Dreihundert Meter vielleicht. Naja, dann habe ich ja bald die
Hälfte.
Jetzt
sind oben auf dem Grat die Spuren von Steigeisen zu sehen. Drei
Meter vielleicht muss man aufrecht über den Grat balancieren.
Ich überlege kurz. Drüberreiten hat keinen Sinn, da wird nur
der Hosenboden nass.
Ich
richte mich auf und gehe die paar Schritte. Dann in die Hocke
und auf der anderen Seite ein paar Schritte hinunter. Weit unten
geht das Schneefeld in einen Felsabsturz über. Der Wind pfeift
und heult und mir will scheinen, als ob sich der Nebel ein wenig
lichtet.
Ich
will gerade neuen Mut fassen, da rutscht mir auf einmal der
Fuss, den ich tastend vorgestreckt habe, weg. Die Schrecksekunde
lässt meinen Mund trocken werden. Herrgott nochmal, pass doch
auf. Vorsichtig hacke ich mir einen Stand zurecht. Ich lehne
mich nach aussen, um den weiteren Weg zu rekognoszieren. Ein
Blick genügt und ich weiss, dass das Aus gekommen ist. Eis.
Richtiges, blankes Eis. Was drüben auf der Südseite der Wächte
als Nasschnee liegengeblieben ist, war hier auf der Wetterseite
vom Wind übers Eis geblasen worden. Oder so ähnlich. Auf alle
Fälle: Eis ist Eis, wie immer es auch entstanden sein mag.
Ich
bin mit meinem Latein am Ende. Naja, immerhin, ich habe es wenigstens
versucht. Bin bis zur absoluten Grenze meiner Möglichkeiten
und Fähigkeiten gegangen. Mehr kann man nun wohl nicht verlangen.
Sollen mich alle anderen einen Hasenfuss schimpfen, hier noch
weiterzugehen wäre reiner Selbstmord. Vor allem, wo ich drüben
wieder hoch muss. Und zurück. Auch wenn ich es einmal schaffe,
zweimal hiesse das Schicksal versuchen.
Schweren
Herzens mache ich mich auf den Rückweg. Wie in Trance steige
ich. Völlig problemlos stehe ich nach vielleicht zehn Minuten
wieder am ersten Gipfel. Als wollte mich der Wettergott necken,
scheint er jetzt ernst zu machen mit dem Aufreissen. Der Wind
schleudert die Nebelfetzen in einem tosenden Wirbel kerzengerade
nach oben, doch darüber ist bereits der blaue Himmel zu erahnen.
Ich
schiesse noch ein paar Bilder von meiner missglückten Tour und
dann nichts wie weg von hier. Ich laufe wieder übers Eis nach
unten. Der Nebel hat sich so weit gelichtet, dass ich den Hang
überblicken kann. Dort unten krabbeln die drei Burschen aus
der Hütte herum. Ich beobachte sie, wie sie fröhlich den Hang
hochlaufen.
Komisch,
die haben nicht einmal einen Rucksack, geschweige denn ein Seil
oder Steigeisen. Die müssen ganz schön auf Zack sein, wenn sie
nur so über den Grat auf den Gipfel wollen. Ich zögere und warte,
bis der erste auf Hörweite herangekommen ist.
"Wo
geht denn ihr bin?"
"Auf den Gipfel".
"So? Ohne Eisen?"
Seine stahlblauen Augen mustern mich verblüfft.
"Klar, wozu brauchen wir denn das?"
"Naja, ich dachte nur, wenn ihr über den Grat wollt,
dann wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn ..."