Dabei
hat alles so gut angefangen. Nach dem Reitausflug mit der hübschen
Katharina und einer angenehmen
Nacht im kleinen aber feinen Hotel Vindeln hielt ich die Zeit
für gekommen, dem guten Leben zu entsagen und einen Tag
in die Wildnis aufzubrechen. Die Sonne strahlt von einem klarblauen
Himmel, die Luft ist frisch und rein und die Vögel zwitschern,
was das Zeug hält.
Ein
idealer Wandertag also. Und noch dazu neue Wanderschuhe. Freudige
Erwartung liegt in der Luft und nach einem ausgiebigen Buffetfrühstück
geht es los. Der Eiszeitwanderpfad beginnt direkt am Freizeitzentrum
von Vindeln. Der Vindelfluss rauscht von der Ferne und die
ersten hundert Meter geht es durch einen ziemlich niedrigen
Jungwald unter enormen Überlandleitungen entlang. Doch
nur kurz, denn bald zweigt das Weglein rechts ab und führt
durch einen schütteren Kiefernwald über sandigen
Boden.
Der
Isälvsleden oder Eiszeitwanderpfad hat seinen Namen von
einem eiszeitlichen Gletscherfluss, der sich hier in grauer
Vorzeit, also vor ca. 9000 Jahren, eine Bahn gewälzt
und dadurch der heutigen Landschaft ihre Form verliehen hat.
In
jenen Tagen vor 9000 Jahren war das Tal eine tiefe Bucht im
Delta des Gletschers zwischen Yoldiameer und Acyclussee.
Die
kühle Luft über dem Eis resultierte in einer beständigen
Hochdruckwetterlage. Das Gebiet stand unter konstantem Einfluss
von Fallwinden des Eises. Äolische Sedimente, Dünen,
wurden durch die Winde an den Eiskanten aufgehäuft. Der
Wanderpfad führt auf dem Juvikdamm entlang, einer der
mächtigsten Dünenformationen des Landes.
Es
gehört natürlich eine gehörige Portion Phantasie
dazu, sich die ganze Gegend von einem dicken Panzer aus Eis
bedeckt vorzustellen. Aber je weiter der Wanderer auf dem
Pfad vordringt, Spuren im sandigen Boden hinterlässt,
einsam wird, sich der Natur überantwortet und von ihr
gnädig aufgenommen wird, je mehr er sich also der Natur
auf Gedeih und Verderb ausliefert, um so gewaltiger werden
die Eindrücke und wächst der Respekt vor der Allmacht
der Elemente.
Gewaltige
Kämme aus Sand türmen sich auf, dagegen nehmen sich
die Dünen der Ostsee nur wie kleine Sandhügel aus.
Diese Berge aus Sand, aufgeschüttet von einem mächtigen
urzeitlichen Strom aus Eis, lassen unser menschliches Dasein
wirklich nur wie ein Sandkorn im unendlichen Lauf der Zeit
erscheinen, wenn wir von gewaltigen, uns übermächtigen
Kräften mal hierhin, mal dahin gewirbelt werden und nur
in unserem allzu menschlichen Wahn glauben, wir könnten
den gewaltigen Strom der Zeit beeinflussen durch unsere aberwitzigen
Gedanken.
Der
Hjukenfluss liegt bereits weit unten im Tal und hat
sich sein Bett tief, vielleicht an die fünfzig Meter
in diese Sandgebirge gegraben. Der Wanderer schreitet am Kamm
der Aufschüttungen dahin auf gepressten, von Jahrhunderten
stetem Druck gezeichneten Sandbänken entlang.
Preiselbeeren,
Moltebeeren und Schwarzbeeren, Orchideen, Wollgras und andere
Blumen begleiten den Wanderer. Steinpilze wachsen zuhauf.
Ganze drei Feuerstellen gibt es und jede Menge Seen - einziger
Nachteil ist das fast völlige Fehlen von Quellen oder
trinkbarem Wasser, ausgenommen vieleicht der Djupsundsee
(Tiefer Sund), der per Ruderboot zu überqueren ist.
Nach
drei Kilometern komme ich zum ersten Teich, dem Aborrtjärn.
Aborre ist der Barsch. Ein Fisch, den jeder Wanderer
auf dem Isälvsleden nach der Wanderung kennt, weil er
an fünf Aborrteichen vorbeigewandert ist.
Nach
einem Kahlschlag, dem eine mit ein paar Pinselstrichen hingeworfene
Wolkenstimmung einen in ihrer Lässigkeit positiven, ja,
versöhnlichen Rahmen verleiht, wird der Weg kurz nur
schwer erkennbar. Zu hoch ist das Schwarzbeerengebüsch,
zu selten gehen hier Menschen.
Am
Furuberg erinnert eine Tafel an ein Ehepaar, das um die vorige
Jahrhundertwende versucht hat, dem sandigen Boden ein paar
Früchte abzuringen. Vergebens haben Anders Lundgren und
Jenny Lindgren sich abgerackert, nur ein paar Steinhaufen
erinnern an ihre Mühen.
In
Hällnäs, einem kleinen Dorf von fünf Häusern
und einem Altersheim leistet die Karte aus dem Touristenbüro
gute Dienste. Ihr ist zu entnehmen, dass der Wanderpfad am
anderen Ende des Ortes nach der Brücke weiterführt.
Daher folge ich der Strasse 363 bis zu angebener Brücke
und dann rechts rauf auf die Böschung und den Hjuksfluss
auf der Kuppe entlang.
Hier
beginnt der spannende Abschnitt der Wanderung. Ca. zwei Stunden
sind seit dem Aufbruch von Vindeln vergangen. Ab jetzt sind
die Zeichen der Zivilisation nur mehr spärlich gesät.
Der Pfad zieht den Wanderer in seinen Bann, auch wenn ich
immer wieder schmerzlich an meine durchaus irdische Anfälligkeit
für drückende Schuhe und Hungergefühle erinnert
werde.
Die
Sandgruben erinnern kurzzeitig an "Carhenge" in
Nebraska, wo ein findiger Farmer Autowracks mit der Schnauze
in den Sand gesteckt und weiss angemalt hat und diese Kreation
eben "Carhenge" genannt hat. Hier hat man sich nämlich
die natürlichen Sandvorräte beim Strassenbau zunutze
gemacht und dann nach Fertigstellung der Strasse einfach alles
Gerät liegen und stehen gelassen.
Die
Sonne brennt unerbittlich vom Himmel, der Sand verschluckt
das Geräusch der Schritte und der Wanderer wünscht
sich ein Pferd oder wenigstens ein Mountainbike, um hier schneller
voranzukommen. Denn der Weg wäre ideal als Reit- bzw.
Fahrradweg.
Auch
die Gelsen, die bis jetzt nur recht spärlich vorhanden
waren, greifen in immer grösserer Zahl an. Da bewährt
sich das Gelsenmittel.
Die
Zeit wird lang, die Schuhe drücken und ein flaues Gefühl
macht sich breit. Hunger- und Durstgefühle lassen auch
den schönsten Weg etwas blass werden. Nach sechs Stunden
taucht der zweite Rastplatz auf. Doch was hilft der schönste
Rastplatz, wenn man nichts zum Beissen hat?
Nach
einer weiteren Stunde breitet sich linkerhand ein kleiner
Waldsee aus, der von vielen Seerosen bedeckt ist. Nach kurzer
Zeit mündet der Weg ins Naturreservat Valfrid Paulsson,
benannt nach dem ehemaligen Direktor der schwedischen Naturschutzbehörde.
Hier
ist auf einmal alles Gequäke und alle Schmerzen vergessen.
Zu schön ist dieser Wald mit seinen uralten Baumriesen,
die zum Teil als Silberkiefern, also abgestorbene Baumgreise,
ihre kahlen Äste, die von der Sonne in ein silbergraues
Licht getaucht werden, in den Himmel recken. Stark und unnahbar
sehen sie aus wie vorsintflutliche Giganten in Silber gegürtet,
bereit zum letzten Kampf.
Am
Långtjärn kreuzen die Gleise der Bahn den
Weg und aus der Ferne höre ich das Pfeifen der Lokomotive.
Der Zug rauscht vorbei und nach zwanzig Wagons höre ich
mit dem zählen auf. Schier endlos erscheint mir der Zug,
der beladen ist mit dem grünen Gold des Nordens, Holz.
Die
Landschaft wird wieder lieblicher und das viele Wasser heitert
das Gemüt auf. Der Weg führt auf einem Hügelkamm
entlang, der zu beiden Seiten von Seen umgeben ist. Hier wachsen
enorm viele Schwarzbeeren, und auch Krähenbeeren, die
ich zum Löschen des ärgsten Durst- und Hungergefühles
in den Mund stopfe.
Die
Blasen an den Fersen sind inzwischen keine Blasen mehr, sondern
offene Wunden, die Socken sind nicht mehr grau, sondern rot.
Die Schuhe auszuziehen ist undenkbar. Zähne zusammenbeissen
und weitermarschieren.
Ich
denke voll spätem, aber desto tiefer empfundenem Mitgefühl
an meinen Sohn, der als kleiner Bub von vielleicht acht Jahren
mit neuen Bergschuhen auf den steirischen Hochreichart geklettert
ist. Erst am Abend war mir aufgefallen, dass er durch das
Wohnzimmer humpelte. Den ganzen Tag hatte er geschwiegen.
So mannhaft kann ich mir meine Schmerzen nicht verbeissen
sondern ich verwünsche lauthals alle Schuherzeuger dieser
Welt.
Immerhin,
der Hunger ist vergangen. Es ist sieben Uhr dreissig abends
und jetzt steht noch eine Rudertour über den Djupsund
an. Das Ruderboot, das mich zur anderen Seite des Sunds, es
mögen vielleicht zweihundert Meter sein, wird losgebunden.
Einem Schild ist zu entnehmen, dass immer jeweils ein Boot
auf jeder Seite des Sunds zu liegen hat. Also rüberrudern,
das andere Boot ins Schlepptau nehmen, zurückrudern und
dann das ganze nochmal.
Auf
der anderen Seite des Sees stelle ich mir zum ersten mal die
Frage, ob ich mir da nicht etwas viel zugemutet habe? Werde
ich es bis Åmsele schaffen oder ist der Biwaksack doch
nichtumsonst im Rucksack? Die Sonne verschwindet in einer
sagenhaften, roten Feuersuppe im See.
Von
einem Teich zum nächsten marschiere ich, getrieben allein
vom Willen, die heutige Nacht nicht im Wald zu verbringen.
Die Karte ist von den ständigen Konsultationen bereits
ganz abgegriffen und fühlt sich schon ganz weich an.
An
einer Kreuzung ist der Weg scheinbar zu Ende. Eigentlich müsste
es links weitergehen. Und irgendwann müsste da vorne
die Bundesstrasse auftauchen. Endlich, nach einer weiteren
Stunde mühevollen Wanderns ist es so weit. Ein paar Häuser
links und rechts der Forststrasse, blökende Schafe, irgendwo
lärmt ein Motor.
Die
Zivilisation hat mich wieder. Inzwischen ist es elf Uhr geworden
und jetzt greift auch hier im Norden die Dämmerung um
sich. Wenigstens bin ich an der Bundesstrasse. Doch es sind
immer noch vierzig Kilometer zurück nach Vindeln.
Da
fällt mein Blick hocherfreut auf ein kleines Schild:
"Bahnhof Åmsele" ist da zu lesen. Nichts wie
hin. Zwei Kilometer - doch was ist das schon. Am Bahnhof ist
alles fest verschlossen. Bei einem Haus öffnet sich ein
Fenster. Ein altes Mütterchen guckt heraus. "Zug?
Hier fahren schon seit zehn Jahre keine Züge mehr, junger
Mann". Und mit einem Kopfschütteln schliesst sie
das Fenster.
Wieder
auf der Bundesstrasse versuche ich es mit dem altbewährten
Autostoppen. Nur - wer bleibt schon bei einer abgerissenen
und müden Gestalt, die im Halbdunkel die Strasse entlangwankt,
stehen?
Die
paar Autos, die in der nächsten halben Stunde vorbeisausen,
jedenfalls nicht. Verzweiflung macht sich breit. Jeder Schritt
schmerzt höllisch, die vom geronnen Blut ganz steifen
Socken graben sich ins rohe Fleisch.
Wieder
kündigt ein Lichterschein ein nahendes Auto an. Ein verzagtes
Lächeln auf die Lippen gepresst und nochmals die Hand
ausgestreckt. Ha, was ist das? Er steigt auf die Bremse, hält
an!
Robert
kommt aus Sorsele und fährt nach Umeå. Er ist erstaunt
über meinen Tagesmarsch und hat noch nie etwas vom Eiszweitwanderpfad
gehört. "Was, sechzig Kilometer bist du gegangen?
Na, das würde mir nicht im Traume einfallen".
In
mir regt sich nach vollbrachter Tat ein gewisser Stolz. Die
Blasen werden vergehen und sind in ein paar Tagen vergessen
- während das Gefühl, eine echte Herausforderung
geschafft zu haben, das bleibt bestehen.