Jämtland
/ Västerbotten
Genusstour
Wildnisstrasse
Der
"Vildmarksvägen", die Hochgebirgsstrasse
durch die Wildnis, führt von Wilhelmina
im Västerbotten (Lappland) nach Strömsund
in Jämtland. Diese Reise sollte im
Herbst unternommen werden, wenn der grösste
Maler von allen, die Natur, mit ihrem
Pinsel über die Landschaft gefahren
ist und sie in eine bunte und aufregende
Farbenpracht getaucht hat.
Von
Eduard Nöstl
Der
Herbst wird hiermit zur besten Reisezeit
erkoren, der den stressbetonten Sommer,
den klirrend- kalten oder noch schlimmer,
nassfeuchten Winter, und auch den zartgrünen
Frühling durch den enormen Reiz seines
prächtigen Farbenkleides bei weitem
in den Schatten stellt. Kein Künstler
kann es der Natur gleich tun, wenn es
gilt, Nuancen zu schaffen, vom tiefsten
Kaminrot über Zinnober, Ocker, Braun
bis zum hellen Gelb, das wieder in hundertfachen
Schattierungen auftritt. Jede dieser Farben
ist nicht eine Farbe, sondern viele hundert
Farben zugleich, abhängig von den
Tages- und Lichtverhältnissen , ob
der Morgentau noch auf den Wiesen liegt
oder die Mittagssonne den Birkenwald zum
brennen bringt. Wenn die Bäume sich
dann noch in stillen Seen oder gewaltigen
Flüssen spiegeln, dann kann man nur
mehr geniessen und dankbar sein, dass
man so etwas Schönes erleben darf.
Die Wildmarkstrasse beginnt für mich
in Wilhelmina, für die nächsten
fünfhundert Kilometer die letzte
grössere Stadt, wo sich der Reisende
mit Vorräten in fester und flüssiger
Form ausstatten kann. Es mag auch durchaus
angeraten sein, hier das Auto noch einmal
vollzutanken, will man unliebsamen Zwischenfällen
aus dem Weg gehen. Es dürfte nicht
jedermanns Sache sein, mit leerem Benzintank
im Niemandsland zwischen den Bergspitzen
auf einer Höhe von 895 m über
dem Meere hängenzubleiben.
,,Die
Wildmarkstrasse? Ja, die ist besonders
schön jetzt im Herbst. Schnee? Nein,
damit braucht jetzt im September noch
niemand zu rechnen. Schotterstrasse? Nein,
nein, ganz neu asphaltiert, die ganze
Strecke." Dieser Bescheid des freundlichen
Tankwarts der Statoil Tankstelle in Wilhelmina
bläst meine letzten Zweifel weg und
frohgemut mache ich mich auf die Fahrt.
Ich
muss mich sputen. Es ist bereits spät
am Tag und ich möchte die berühmten
Trappstegsfallen oder Treppenwasserfälle
bei Saxnäs, die sich beim Auslauf
des Kultsees bilden, unbedingt bei Tageslicht
sehen.
Es
sollte sich herausstellen, dass ich mich,
wie so oft hier in Nordschweden, bei den
Kilometern tüchtig verschätzt
hatte. Als ich endlich beim Hinweisschild
Trappstegsfallen ankomme, ist es bereits
zappenduster. Was tun? Zum Glück
sind es nur sechs Kilometer bis zum Saxnäs
Högfjällshotell, oder Hochgebirgshotel,
und von meinen Reisen in Norwegen ist
mir bekannt, dass diese Högfjällshotels
einen Superstandard haben. Die Wahl, die
Nacht im Auto verbringen oder im Hotel,
fällt mir leicht.
Doch
bei meiner Ankunft verlöschen gerade
die Lichter in der Rezeption. Oh weh,
zu spät dran. Ich steige trotzdem
aus, um mir die Beine zu verteten. Da
kommen zwei dienstbare Geister aus dem
Hotel gehuscht.
"Hallo,
arbeitet ihr hier? Gibt es vielleicht
noch ein Zimmer?"
"Nein
tut uns leid, alles voll. Doch halt,
haben wir nicht eine Stuga? (Blockhaus)?"
Ein
eifriges Diskutieren setzt ein, die
beiden sind sich nicht sicher, aber
es scheint, dass zwar alle Hütten
gebucht waren, doch eine hatte no
show", es war also niemand gekommen.
"Ja,
eine Hütte haben wir, mit acht
Betten, 490 Kronen".
Ein
stolzer Preis far ein paar Stunden Schlaf.
Dann doch lieber eine Nacht im Auto.
"Nö,
ist mir zu teuer, was fange ich mit
acht Betten an,
bin ja allein - tja, für den halben
Preis?"
Der
bildhübsche Blondschopf braucht
nicht lange nachzudenken.
Okay,
halber Preis. Aber in bar."
Ha,
da sag noch einer, in Schweden könne
man nicht über den Preis reden!
Im Hotel zücke ich mein Geldbörse.
"Zweihundert?"
frage ich hoffnungsvoll.
"Nichts
da, zweihundertfünfzig und kein
Öre weniger", kommt die barsche
Antwort.
Na
gut, ich will den Strick nicht überspannen.
Bar bezahlt, Schlüssel eingesackt.
"Ripan
(Schneehuhn) heisst das Blockhaus, nicht
zu verfehlen, gleich um die Ecke. Tschüss
und gute Nacht".
Weg
ist sie.
Von
wegen, gleich um die Ecke. Ich finde den
Biber, den Fuchs, auch den Bären,
nur das Schneehuhn hat sich gut versteckt.
Als ich bereits alle Hoffnung aufgeben
will, entdecke ich das Schneehuhn auf
einer Hauswand. Jetzt aber nichts wie
hinein in die gute Stube. Das Blockhaus
ist geräumig und bietet Platz genug
für acht Personen. Eigene Sauna,
offener Kamin, Kochnische Fernseher. Für
mich am wichtigsten sind die Betten.
Zwei
Schlafzimmer mit je vier Stockbetten.
Alle Achtung. So fürstlich habe ich
schon lange nicht mehr um zweihundert
Kronen gewohnt! Die mitgebrachte Bettwäsche
ist schnell aufgezogen und schon versinke
ich in einen wohligen Schlaf. Pünktlich
um sechs bin ich bereits wieder munter.
Ein Blick aus dem Fenster. Schade, Nebel.
Naja, wird schon aufreissen, immerhin
ist es hell. Frühstück, nun
noch schnell geduscht und die Zähne
geputzt, dann geht es bereits zum Trappstegsfall.
Der ist wirklich toll und liegt gleich
neben der Strasse mit einer fotogenen
Birke als Vordergrund. Gleich in der Nähe
verweist ein Schild auf das Marsfjäll,
ein Naturschutzgebiet mit dem grössten
Felsmassiv von Wilhelmina. Das spare ich
mir fürs nächste Mal. Mein heutiges
Ziel ist Fatmomakke.
Fatmomakke
ist ein alter samischer Treffpunkt und
liegt im Tal des Sees Kultsjö
ungefähr zwanzig Minuten von Saxnäs
entfernt. Der Weg führt über
eine Brücke führt und geht als
Schotterstrasse nach einer Rechtskurve
gleich steil bergauf. Holla, da läuft
mir doch glatt eine Elchkuh über
den Weg! Gut, dass hier Schrittempo angesagt
ist.
Fatmomakke
ist bekannt für seine Kirche und
die Lappenkaten (Holzzelte). Treffpunkt
der samischen Urbewohner und zu Mittsommer
wird ein besonders stimmungsvolles Fest
veranstaltet , bei dem viele Teilnehmer
in den traditionellen Trachten der Lappen
gekleidet sind. Gut, dass ich mich heute
nicht mit tausend anderen Leuten zu drängen
brauche. Die Einsamkeit ist total. Hinter
mir nichts, vor mir nichts, nur ich und
mein Auto.
Rechterhand
rauschen die klaren Wasser eines Gebirgsflusses
und vor mir tauchen die ersten Lappenkaten
an den Hängen auf. Die Strasse verbreitert
sich zu einem Parkplatz und hört
auf. Ausser mir steht nur ein Kombi der
Marke mit dem Stern auf dem Parkplatz.
Die Lappen dürften an ihren Rentieren
ganz gut verdienen, geht es mir durch
den Kopf, während ich die Autotür
öffne. Brr, ganz schön frisch.
Noch ein Pullover und die Jacke oben drüber.
So, wo ist die Kirche?
Einige
Souvenirstände stehen verlassen da,
ein paar Hinweistafeln weisen zum Fluss.
Während ich über die stabile
Brücke wandere, sehe ich draussen
auf dem See ein kleines Boot mit drei
Mann - das dürften die Männer
aus dem Mercedes sein. Ich hebe die Hand
zum Gruss, lasse sie aber gleich wieder
sinken. Die Burschen sind beschäftigt.
Nach einigen erfolglosen Ruderschlägen
wirft einer von ihnen den Aussenbordmotor
an und mit tuckerndem Motor verschwinden
sie um die nächste Halbinsel. Ich
spaziere weiter den Weg entlang.
Tau
liegt auf der Wiese, die Wolken scheinen
zum Greifen nahe. Ob es heute noch Fotowetter
gibt? Mist, jetzt fängt es auch noch
zu nieseln an. Jede Menge Lappenkaten,
alle aus Holz und alle mit einem dicken
Vorhängeschloss an der Tür.
Komisch, was die wohl da drinnen aufbewahren?
Da, endlich ist eine offen. Ich trete
ein. Es ist eine Art Kapelle der Heilsarmee!
In
der Mitte eine Feuerstelle, daneben liegt
Brennholz, auf dem Holzstoss der unvermeidliche
Kochtopf für den Kaffee. Auf einem
Tisch sind Ansichtskarten und ein paar
Broschüren ausgebreitet. Ich lese
gespannt und erfahre, dass sich zur Jahrhundertwende
ein Lappenmädchen aufgemacht bat,
um die Lappen zum Christentum zu bekehren.
Die Dame dürfte musikalisch gewesen
sein, denn sie wird mit Gitarre abgebildet.
An der Wand hängt der Text eines
Kinderliedes, das laut Broschüre
alle Kinder früher gekonnt haben.
Schön.
Ich
weiss nicht, ob es Ihnen auch so geht,
aber ich fühle mich immer gerührt,
wenn erwachsene Menschen so felsenfest
an etwas glauben. Und dann erfinden sie
noch so schön sentimentale Texte
dazu. Ich stapfe weiter zur Kirche. Ein
weisses Bergkirchlein mit hohem Glockenturm,
nur leider verschlossen. Das ist einer
der wenigen Nachteile, wenn man so ausserhalb
der Saison unterwegs ist.
Doch
macht es mir nicht wirklich etwas aus.
Die Natur um mich schlägt das schönste
Gotteshaus um Längen. Und hier heraussen
fühlen sich auch Männer, die
ihr Leben lang nicht gebetet haben, von
der Schönheit der Natur zu andächtigen
Gedanken angeregt. Das ist auch etwas
wert.
Mit
schnellen Schritten laufe ich zum Auto
zurück. Dort, wo die Lappen mit dem
Boot verschwunden sind, steigen die Rauchwolken
eines offenen Feuers zum Himmel. Gegen
eine frischgebratenen Forelle hätte
ich jetzt auch nichts einzuwenden. Eine
Banane aus der eisernen Reserve muss gegen
den ärgsten Hunger helfen.
Auf
dem Weg zurück zur Bundesstrasse
verfahre ich mich gleich. Das heisst,
ich will Bruder Schlau sein und stelle
mir vor, dass die Schotterstrasse, die
nach rechts wegführt, eigentlich
weiter vorne wieder auf die Bundesstrasse
münden müsste. Da ich immer
bereit bin, neuen Ideen eine Chance zu
geben, fahre ich darauf. Bis zum bitteren
Ende. Vorbei an einer Menge Hütten,
zum Teil bewohnt, zum Teil Wochenendhäuser,
alle mit einer tollen Aussicht über
den unvermeidlichen See, stehe ich plötzlich
an. Meine Theorie war leider nicht verifizierbar.
Ganz im Gegenteil. Weit und breit keine
Bundesstrasse, nicht einmal am anderen
Ufer des Sees!
Umkehren,
zurück über die Brücke,
rechts halten. Die nächst Station
ist das Klimpfjäll. Fjäll bedeutet
Gebirge. Vorerst geniesse ich den tollen
Ausblick über den Kultsee. Der Himmel
reisst auf und die Sohne fährt in
den Birkenwald auf der gegenüberliegenden
Seite und lässt ihn in hundert Farben
erstrahlen!
Das
Klimpfjäll liegt ziemlich weit oben
am Stekenjokk und ist ein winziger Ort
mit einem schönen Hotel und angeschlossenen
Ferienhäusern.
Unter
den Ausflugszielen ist vor allem der Norgefarargård
zu erwähnen, ein altes Bauernhaus,
wo früher, also um die vorige Jahrhundertwende,
die Handelsreisenden nach Norwegen ein
letztes Mal zur Rast einkehrten. Eine
tolle Aussicht hatten die alten Burschen
von hier. Wie ihnen wohl zumute war, wenn
sie einen letzten Blick auf ihren schwedischen
See hinunterwarfen? Norwegen ist nur mehr
ca. sechs Kilometer entfernt.
Vor
der Tür liegen wie achtlos hingestellt
und vergessen zwei tolle Elchgeweihe.
Riesige Elchbullen müssen das gewesen
sein. Ich wundere mich über das Vertrauen
der Leute. Man sollte Touristen nicht
so in Versuchung führen. Zum Glück
für mein Gewissen arbeitet eine junge
Frau im angrenzenden Schafstall. Auf meinen
Zuruf reagiert sie nicht, dafür kommen
eine Menge Schafe angelaufen. Da der Norgefarargården
sowieso geschlossen ist, setze ich mich
wieder ins Auto und fahre weiter.
Ab
jetzt wird es hochalpin. Das Stekenjokk-Plateau
ist angesagt.
Es
ist immer schwierig, Leuten, die die nordischen
Gebirge nicht kennen, klar zu machen,
wie beeindruckend diese Berge sind. Dabei
sind sie nicht besonders hoch - knapp
über tausend Meter. Der höchste
Gipfel Schwedens, der Kebnekaise, ist
gerade ein Zweitausender. Trotzdem sollte
niemandem einfallen, diese Gebirge zu
unterschätzen.
Der
Vergleich mit den Alpen fällt schwer.
Die Alpen sind schroff und steigen vor
dem Betrachter mit ihren Zinnen und Türmen
steil auf - sie sind wie gotische Kathedralen,
während die skandinavischen Gebirge
breit und wuchtig wie romanische Dome
dastehen. In den Alpen verrenkst du dir
den Hals, weil du immer den Kopf nach
hinten legen musst. In Schweden bist du
unmerklich auf einmal mitten drin, du
weisst nicht, wie hoch oben du bist, nur
ein Gefühl des Ausgesetztseins umfängt
dich plötzlich. Des Alleinseins und
einer harten, kargen Natur rundherum.
Und sollte Hilfe nötig werden, ist
sie weit weg.
So
auch hier am Stekenjokk. Bis zum nächsten
Ort sind es jetzt ungefähr zweihundert
Kilometer! Das Stekenjokk ist ein Hochplateau,
Schneereste liegen auf den Hängen,
die Weite der Gegend ist beeindruckend.
Kilometerweit ziehen sich die baumlosen,
tundraartigen, geröllübersäten
Wiesen hin zu den Felsen. Und hier heroben,
mitten in der Einschicht, im Niemandsland
der Natur, steht ein Ortsschild von Strömsund!
Zweihundertfünfzig Kilometer sind
es bis zum eigentlichen Ort und hier steht
bereits das Ortsschild! Das sind schwedische
Entfernungen.
Jetzt
reisst auch der Himmel endgültig
auf und die Wolken ziehen vom starken
Wind getrieben über den blauen Himmel
wie Fetzen eines riesigen Segels. Linker
Hand, kaum fünfhundert Meter von
der Strasse entfernt, ragt ein spitzer
Zacken auf. Dort würde in den Alpen
sicher ein Gipfelkreuz die Wanderer anlocken.
Kilometer
um Kilometer geht es das Hochplateau entlang.
Wanderwege sind durch Steinmänner
gekennzeichnet, in weiter Ferne gegen
Norwegen hin ragen Gipfel auf, an deren
Hängen noch oder schon wieder Schnee
liegt. Die Wildnisstrasse macht ihrem
Namen wirklich alle Ehre. Kein Andenkenverkäufer,
keine Würstchenbude, schon gar kein
Berggasthaus. Nur Natur pur.
Rechts
der Strasse erinnert ein malerisches Lappenzelt
an die Ureinwohner der Gegend und hier
in der Nähe entspringt auch der Gaustajokkfall
einem Canyon, nur ein paar Meter neben
der Strasse. Den will ich natürlich
unbedingt sehen. Ein kalter Wind pfeift
mir um die Ohren und ich krame aus den
unergründlichen Tiefen meines Rucksacks
ein Mützchen heraus, das dort immer
für Notfälle schlummert.
Hätte
ich mehr Zeit, würde ich an der Feuerstelle
neben dem Zelt ein Feuer entfachen und
mich wärmen, doch es gibt noch so
viel zu sehen! Nach einem kurzen Blick
auf die gischtenden Wasser des Gaustajokk-Canyons
geht es daher wieder weiter.
Den
Bjurälven, also Biberrfluss, will
ich unbedingt besuchen und daher lenke
ich nach einigen Kilometern mein Auto
dem Schild zufolge auf die kleine Schotterstrasse.
Es ist nicht weit, gerade drei Kilometer,
und bei einem Bauernhof ist der Weg zu
Ende. Zwei Schlittenhunde springen herbei
und bellen aufgeregt. Zum Glück kommt
auch gleich der Bauer hinterdrein und
pfeift seine Hunde zurück.
"Hallo,
wo bitte geht's hier zum Bjurvattnet?"