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Polarkreis Nattavaara

Mitternachtssonne am Polarkreis

Immer wieder erhalten wir Post von Fans der absoluten Einsamkeit. Von Leuten, die allein sein wollen und je weiter im Wald und fern jeder Zivilisation, je lieber. Alle Verächter der modernen Lebens aufgepasst! Hier kommt eine Gegend, wo auch der eingefleischteste Einsiedler sich nach einem Kameraden zu sehnen beginnt. Ich rede vom Fluss Råneälv und seinem zweihundert Kilometer langen Tal. Der Råneälv ist einer der wenigen frei lebenden Flüsse Nordschwedens, er ist also von jedem Kraftwerk mit seinen Dämmen und Flussregulierungen verschont geblieben. Die wenigen Strassen, die es in seiner Nähe gibt, sind Schotterstrassen und wir Mitteleuropäer würden eigentlich eher Forststrassen dazu sagen.

von Eduard Nöstl


Das Tal des Råneflusses, zu einem Gutteil nördlich des Polarkreises gelegen, ist bisher von den zwangsbeglückenden Segnungen des Tourismus verschont geblieben, so ist es mir trotz eifrigen Suchens nicht gelungen ein Tourismusbüro ausfindig zu machen, es gibt kein Hotel, keine Herberge, kein Gasthaus, nichts. Nur Fluss, Seen und den immergrünen Wald: Kiefernwälder erstrecken sich soweit das Auge reicht, unterbrochen nur von den blumenübersäten Wiesen an den Seiten des Flusses. Komm mit auf eine Reise in die Urzeit!

Ich lasse den Tag vor meinem geistigen Auge noch einmal an mir vorbeiziehen. Die Fahrt hierher in den Norden, die gehobene Stimmung als um zwei Uhr nachts der Himmel rot gefärbt war von der Sonne und keine Dunkelheit mehr eintreten wollte. Die Strassen herauf nach Nattavaara, die scheinbar ohne Ende durch die Wälder führen.

Das interessante Experiment des Bernhard Zimmer, eines Schwaben, der sich vor zehn Jahren mit seiner Frau Diana zurückgezogen hatte und ohne Elektrizität nur mit seiner Hände Arbeit eine Zukunft aufgebaut hatte. Jeden Winter führt er seine Gäste mit zahmen Rentieren durch den meterhohen Schnee und lässt seine Gäste erleben, wie einfach wir ohne die Segnungen des Zivilisation auskommen können.

Merkwürdigerweise gehören zu seinen Gästen vor allem Manager Ärzte, Rechtsanwälte, die sich hier an der Natur Kräfte für ihr aufreibendes Tagesgeschäft holen. Verkehrte Welt! Leute, die sich alles leisten können, kommen in die Einöde um dem zu entfliehen, wofür sie sich ein Leben lang abgerackert haben.

Bernhard hatte mich auf eine schnelle Tour durch seinen Besitz mitgenommen. Alle Häuser, es gibt deren drei, nicht zu reden von dem originellen mit Torf verkleideten Gebäude, das mit seinen acht Nischen und der Feuerstelle in der Mitte mit Rentierfellen auf dem Boden nun wirklich allen Anforderungen auch noch so romantischer Seelen genügt, sind eigenhändig von ihm erbaut.

"Da erzähle ich den Leuten richtige Gute Nacht Geschichten und ob du es glaubst oder nicht, ich höre, wie sie einer nach dem anderen brav einschlafen." Diana kocht einen wunderbaren Kaffee und ich darf mich kurz zu den beiden im eigenen Wohnhaus setzen und bewundere die geschnitzten Elche, die ihnen der gleiche Künstler, der das Polarkreis Monument geschaffen hat, geschenkt hat. An der Wand hänge tolle Impressionen mit Szenen aus dem Polarnacht geschaffen von einem anderen begabten Sohn des Orts, Lennart Persson.

Vermutlich verstehen diese Künstler die Beweggründe dieses deutschen Paares noch am ehesten - verwandte Seelen, denn auch Bernhard ist ein Künstler, ein Lebenskünstler, der mit seiner Hände Arbeit das Überleben unter härtesten Bedingungen zu einer Kunst erhebt.

Fünf Kinder ziehen Diana und Bernhard gross. Ohne Strom, ohne Kühlschrank, ohne nichts von dem, was wir als unabdingbar finden für unseren Lebensstil. Diese beiden Menschen zu erleben, das Glück in ihren Augen und in den Augen ihrer Kinder zu sehen, das allein macht schon, dass sich die Reise hierher rechnet. Die Frage nach dem Warum hat sich nie für die beiden gestellt, es würde ihnen nie einfallen, irgendetwas von dem in Frage zu stellen, was sie machen. Es ist selbstverständlich wie das Leben und wenn es ihnen einmal nicht mehr gefallen sollte, werden sie einfach weiterziehen.

Romantisches Nattavaara nördlich des Polarkreises

Von diesem Drang zum Nomadisieren spüren die Bewohner von Nattavaara nichts in sich. Ganz im Gegenteil, ihnen gefällt es hier im Norden direkt ober dem Polarkreis und sie tun alles, um sich in dem kleinen Ort ihr wenn auch karges Auskommen zu schaffen. Bertil Holmberg und Per Erik Jönsson sitzen im kleinen Café, das der Heimatverband hier im Sommer zur Aufbessserung der Finanzen betreibt. Es ist die einzige Stelle, wo man überhaupt etwas zu essen kriegen kann in diesem Tal und daher gut frequentiert. Das Café liegt direkt am kleinen Flüsschen neben der Brücke, wo sich die zwei Strassen, die nach Gällivare und die nach Mårdsel kreuzen.

Es ist strahlend blau, obwohl es am Vormittag noch leicht geregnet hat und das Grün der Kiefern und der Wiesen hebt sich wohltuend gegen den blauen Himmel ab. Majken, eine ältere Dame serviert einen Lachseintopf, der hervorragend schmeckt, danach gibt es hausgemachten Kuchen. Bertil lässt es sich nicht nehmen und schleppt mich zur grossen Attraktion des Ortes, den sechs eigenhändig gezimmerten Hütten gleich neben dem Heimathaus.

Die Hütten sind wie immer geräumig, voll moderner Küche und Badezimmer ausgerüstet und mit SEK 450.-, also etwa €50.- pro Nacht für sechs Personen echt preiswert. Im Heimathaus zeigt Bertil auf die Bilder an der Wand. "Das ist von der Eröffnung des Motorschlittenpfads Malmens Väg durch den König." Selten habe ich den König so entspannt gesehen, er lacht und scherzt mit den Leuten. Kein Wunder, hat er doch hier oben im "roten Norden" seine grössten Anhänger.

Bertil schmunzelt vor sich hin und erklärt: "Als der König von Gällivare mit dem Skoter hierhergefahren ist, war natürlich der ganze Ort auf den Beinen. Wie er nun kommt, sag ich zu ihm: 'Majestät sind wohl zu schnell gefahren' (jeder weiss, dass der König ein Faible für schnelle Autos hat)." Ein bisschen verdutzt ob dieser Anrede fragt der König nach dem Grund dieser Annahme. "Weil unsere Kartoffel noch nicht gar gekocht sind" ist die schlagfertige Antwort Bertils.

Dazu muss man wissen, dass Bertil ein richtiger Patriarch mit weissem Bart und beachtlicher Leibesfülle ist. Sein Alter schätze ich auf Ende sechzig, später erzählt er mir, er habe schon die Achtzig vorbeistreichen gesehen. Bertil nimmt seine Rolle als Vorsitzender des Heimatvereins ernst und gleich neben seinem Wohnhaus rüstet er einen alten Hof aus dem vorigen Jahrhundert auf. Alles soll wieder original entstehen, sogar das Dach wird mit Holzschindeln gedeckt. Überhaupt ist die Bautätigkeit hier im Norden rege und die Menschen, die noch da sind, strotzen vor Selbstvertrauen und einem unverrückbaren Glauben an die Zukunft.


Recht haben sie, denn die Natur des Råneflusstals bietet ihnen eine Lebensqualität, um die sie auch halb Schweden beneidet, nicht zu reden von den Bewohnern des übrigen Europa, die oft dicht an dicht leben müssen. Hier gibt es Platz.

Von Waldsamen und anderen Leuten

Per Erik Jönsson der auch mit von der Partie ist, ist eine Generation jünger als Bertil, um die Mitte Dreissig und fährt mich in seinem Mercedes in der Gegend herum zu den schönsten Stellen, wie er meint. Wir holpern auf den Schooterstrassen dahin zu diversen Flussbiegungen und immer wieder verweist Per Erik auf kleine Übernachtungshütten, die zur Veredlung der Infrastruktur an schönen Stellen errichtet wurden. Alle sind perfekt ausgestattet mit kleinem Öfchen, Tisch, Bänken und Sauna. Ein Hauch von Schilda liegt über diesen Bestrebungen will mir vorkommen, denn im ganzen Råneflusstal habe ich kein Tourismusbüro gesehen und wie sollen nur die Touristen diese Edelsteine, wie sie die Hütten, die noch dazu gratis zu benützen sind, finden?

Per Erik ist ein typischer Vertreter der Spezies, die sich hier heroben im Norden durchschlagen. Er hat studiert, ist Ingenieur und hat auch für einige grosse Firmen gearbeitet, hat sich aber jetzt selbständig gemacht und führt andere Firmen durch den Dschungel schwedischer und neuerdings auch EU Vorschriften. Seine Frau betreibt eine Firma, die sich mit Computerprogrammen beschäftigt.

Dabei ist Per Erik ursprünglich ein Same mit einem eigenen Rentierzeichen, das er von der Schwester seines Grossvaters geerbt hat. Er hat gemeinsam mit seinem Bruder über hundert Rentiere und mehrmals, als wir an Wäldern vorbeikommen, zeigt er gleichsam zerstreut aus dem Fenster und meint: "Ah ja, da fahren wir wieder durch meinen Wald". 400 ha Kieferwald ist auch nicht schlecht, vor allem wenn einmal Ebbe in der Kasse ist und Rechnungen anstehen, naja, dann wird halt wieder ein Baum mehr gefällt und die Sache hat sich. Lächelnd erzählt Per Erik, dass ganz Nattavaara auf den Polarkreis wartet, denn in etwa tausend Jahren wird der Polarkreis, der sich ständig gegen Norden hin verschiebt, durch den Ort verlaufen.

RentierePer Erik zeigt mir auf seiner Digitalkamera ein paar Bilder von der Rentierkennzeichnung, die er am Tag zuvor aufgenommen hat. Überhaupt ist ein Kennzeichen der Menschen hier im Norden ihr unverwüstlicher Glaube an die Segnungen der Technik und ihr Mantra ist der Fortschritt. Als ich beiläufig frage, wo ich denn einen Film für meinen Fotoapparat herbekommen könnte, sehen sich Bertil und Per Erik zunächst ratlos an, denn beide haben natürlich das neueste an digitaler Fototechnik in der Tasche. Zuletzt kommen sie drauf, dass vielleicht im Heimathaus unter all den alten Klamotten noch irgendwo ein Film herumkugeln könnte, was auch stimmt.

Egal, Per Eriks Bruder ist auf alle Fälle Vollzeitsame, er kümmert sich also um den Wald und um die Rentiere. Im Unterschied zu den Fjällsamen laufen die Waldsamen ihren Tieren nicht die ganze Zeit hinterher, sondern die Tiere bewegen sich frei im Wald, und brauchen nicht in die Berge getrieben zu werden, sondern bleiben das ganze Jahr über in den Wäldern. Auch für die Kennzeichnung der Jungtiere haben sich die Waldsamen etwas Neues einfallen lassen: Sie verwenden kein Lasso und fangen die Tiere aus der Herde, die im Kreis herumgetrieben werden, sondern sie binden eine Öse an eine lange Stange, schleichen sich an die Tiere heran und schwupp, steigt das Tier in die Öse und ist gefangen. Ein Schnitt ins Ohr kennzeichnet das Jungtier für alle Zeit mit dem Zeichen seines Besitzers.

Der harte Kampf gegen die fliegenden Geschwader

Von Nattavaara fahre ich in meine Hütte am Polarkreis und dem tollen Monument des Erling Johansson. Als Bertil hört, dass ich dort übernachten werde, stellt er mir flugs eine Urkunde aus, die bezeugt, dass ich in Nattavaara den Polarkreis überschritten habe. Diese Urkunde hängt jetzt an der Wand und ist ein lustiges Erinnerungsstück an das Råneflusstal.

Es ist zwölf Uhr mitten in der Nacht. Zum hundertsten Mal setze ich mich auf und klatsche in die Hände. Wieder eine Gelse. Trotzdem weiss ich, dass ich in spätestens zwei Minuten wieder das Surren der nimmermüden Quälgeister im Ohr haben werde. Es ist taghell, die Sonne scheint durch die Scheiben meiner Hütte, in den Strahlen sehe ich die Mücken taumeln. Freudetrunken dass sie ein Opfer gefunden haben, das so dumm war, sich nur mit einem Gelsenspray bewehrt hierher in diese Hochburg der nordischen Mückenkultur aufzumachen.

Die roh behauenen Stämme der Kiefern, aus denen meine Hütte erbaut ist, riechen noch deutlich nach Harz. Ich habe zwei Bänke zusammengeschoben, die mein Bett bilden. Ein Tisch und ein Kanonenofen bilden die ganze Einrichtung. Die Tür schliesst nicht richtig, das heisst es ist ein Spalt von etwa einem Zentimeter frei, durch den die Mücken immer wieder hereinfinden.

Zuerst hatte ich noch zu lesen versucht. Stoische Ruhe beobachtet. Dann waren mir die Augen zugefallen. Gerade im einschlafen hatte ich dieses Surren im Ohr verspürt, mit einem Ruck hoch und den Quälgeist verscheucht. Aufatmend hatte ich mich zurückfallen lassen. Bis zum nächsten Angriff, der immer gerade dann eingeleitet wird, wenn meine Aufmerksamkeit nachlässt und sich mein Geist ein wenig entspannt.

Ich spüre wie der Ärger in mir hochsteigt. Ärger nicht so sehr über die Mücken, in deren angestammtes Jagdgebiet ich mich ja freiwillig vorgewagt hatte sondern darüber, dass ich mich nur mit meinen läppischen deutschen Mückenmitteln bewehrt in diese urzeitliche Natur, wo eben die Regeln der Natur gelten, somit also der Stärkere überlebt.

Sicher, der Mensch ist ein Teil der Natur. Ich stehe voll und ganz hinter dieser Aussage oder ist es vielleicht eine Ansage gegenüber der Natur? Egal, ich fühle mich als Teil der Natur und halte nichts von denen, die sich als Eroberer und Gebieter und Herren der Welt fühlen. Andererseits hat die Natur den Menschen mit der Gabe ausgestattet, sich selbst und seine Umgebung kritisch zu betrachten, und etwas, das ihm nicht gefällt, zu ändern. Dadurch ist wohl der Wahn entstanden, der Mensch könne sich die Natur untertan machen. Doch die Natur schlägt zurück. Sie schlägt kurz und hart oder lang und ausdauernd, sie hat die Schnelligkeit eines Tigers oder die zähe Ausdauer eines Vulkans.

Zuletzt bleibt immer die Natur Sieger über den Wahn des Menschen. Denn immer wieder wird der Mensch daran erinnert, dass sich die Natur nicht kampflos geschlagen gibt, sondern ihn herausfordern wird in seinem Bestreben sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen. Im Grossen und im Kleinen. In Katastrophen wie Dürre oder Überschwemmungen aber auch durch Plagen wie Ungeziefer und eben Mücken. Von einem solchen hoffnungslosen Kampf gegen die Urgewalt der Natur handelt dieser Bericht.

Ich habe bereits meine Reserven erschöpft, meine Phantasie ist ausgelaugt und die Reste meiner Ruhe scheinen einer nervösen Negativstimmung Platz machen zu wollen. Andererseits, was können Mücken am wenigsten vertragen? Rauch. Vielleicht helfen ein paar Scheite im Kanonenofen. Es ist zwar überhaupt nicht kalt oder auch nur frisch, die Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen durch das Fenster trotz der späten Stunde - es ist inzwischen weit nach Mitternacht, aber nichts soll unversucht bleiben um diesen Mückengeschwadern Einhalt zu bieten.

Etwas Birkenrinde dient als Papier, es erleichtert das Anzünden ungemein, dann ein paar kleinere Späne und schon flackert ein Feuerchen im Ofen. Wie oft hatte ich mich über Öfen geärgert, die Ihren Rauch absolut nicht durch den dafür vorgesehenen Kamin abschicken wollten, sondern ihn immer wieder in den Raum husteten. Dieses Öfchen scheint die vielgerühmte Ausnahme zu sein: Brav zieht der Rauch durch den Kamin, nicht das geringste kleine Wölkchen will sich im Raum verbreiten. Dafür drückt der Wind den Rauch vor die Hüttentür und als ich Holz holend die Tür öffne, kommen alle Mücken, die sich vor der Tür versammelt haben herein, um die rauchfreie Luft in der Stube zu geniessen. Gemeinsam mit mir. Wie hatte doch Bertil, ein älterer Herr in Nattavaara, dem kleinen Ort, den ich kurz zuvor besucht hatte, gesagt: "Im Norden bist du nie allein".

Er hatte damit auf die ständige Anwesenheit der Mücken abgezielt. Diese hier am Polarkreis scheinen zu einer ganz besonders geselligen Art zu gehören. Wie einen lange verlorenen Freund umsurren sie mich und flüstern mir die schönsten Liebeserklärungen ins Ohr. Viele können sich gar nicht beherrschen und wollen mir ganz nahe sein. Sie setzten sich auf jede freie Hautstelle und beginnen verzückt zu geniessen. Wusste gar nicht, dass ich so beliebt bin!
Schmollend ziehe ich mich ob der negativen Resultats meines Ofenexperiments wieder in den Schlafsack zurück. Denkste.

Inzwischen ist es im Raum dermassen heiss geworden, dass an einen Rückzug in den Schlafsack nicht zu denken ist. Ich ärgere mich masslos über meine Überheblichkeit. Per Erik, ein Waldsame, der mich am Nachmittag ein wenig im Wald umhergeführt hatte, hatte mir noch sein Dschungelöl "echt, noch von der Zeit als das Originaldschungelöl nicht verboten war" angeboten und hatte es noch dazu mit Teeröl versetzt. Ich hatte es denn auch benutzt und mich ordentlich bekleckert. Untrügliche Spuren waren auf meiner Jacke zurückgeblieben. Daher hatte ich dankend abgelehnt als er mir sein Fläschchen angeboten hatte. Diesen Übermut bereue ich jetzt zutiefst. Fünfe auf einen Streich. Wenn das das tapfere Schneiderlein wüsste!

Allzu tapfer fühle ich mich nicht, ganz im Gegenteil, ich suche fieberhaft nach einem Ausweg. Hm, vielleicht mögen sie keine hellen Farben. Ich hole aus dem Rucksack mein letztes einigermassen weisses T-shirt und winde es fachgerecht über den Kopf. Die Hände vergrabe ich in den Hosentaschen und die Füsse in dicke Socken. Funktioniert, bis auf das kleine Problem, dass ich keine Luft kriege.

Wie ein Ertrinkender recke ich meine Nase aus dem Schleier, zur grossen Freude meiner neuen Freunde, die schon ganz ratlos ob meines plötzlichen Verschwindens suchend umhergeirrt waren. Jaja, bedient euch nur, ich spende gern mein Blut, wenn ihr euch daran gütlich tun wollt, bitte sehr. Ich schaue aus dem Fenster und freue mich über die Sonne und die Wolken und das tolle Monument, das ein Kunstschaffender des Ortes hier am Polarkreis aufgestellt hat. Übrigens das einzige von Hand geschaffene Kunstwerk im ganzen Rånetal. Alle anderen Kunstwerke oder was ich dafür halte sind Werke der Natur.

Erlebnis Elchwiese

Nach einer Nacht, die sich erst gegen den frühen Morgen, wenn es den Mücken zu kalt wird, zu einer ruhigen Nacht mausert, steuere ich mein Gefährt über die enormen schneisenartigen Strassen nach Valvträsk, wo mich Håkan Landström von Nordguide erwartet.

RåneälvtalDie Strasse ist kerzengerade durch den Wald geschlagen und nicht erst hier kommt mir die Idee, dass sich diese Gegend eigentlich hervorragend mit dem Fahrrad erkunden lasen müsste. Mit dem Zug nach Nattavaara, dort ein Fahrrad gemietet und einer Woche hautnahen Naturerlebens steht nichts mehr im Wege. Nach einer Woche und zweihundert Kilometern durch das Flusstal des Råneflusses ist man in Boden, steigt zufrieden in den Zug Richtung Süden und fährt nach Hause. Diese Woche wird gespickt mit MTB-Abschnitten, Kanutouren und kleinen Wanderungen.

Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über mir und trotzdem ich nicht unbedingt meine acht Stunden Schlaf gefunden habe, fühle ich mich frisch und munter. Mir hatte das einmal ein Bewohner der Breitengrade nördlich des Polarkreises so erklärt: "Im Sommer brauchen wir fast gar keinen Schlaf, die Natur und die Sonne erfüllt uns mit so viel Energie, dass wir uns fast die ganze Zeit wach halten können. Dafür schlafen wir dann im dunklen Winter mehr". Da könnte etwas dran sein, denn meine Sinn sind gespannt und ich bin völlig klar im Kopf und aufmerksam.

Das zahlt sich aus, denn gerade komme ich an einem früheren Kahlschlag vorbei, und ich weiss aus Erfahrung, dass es sich hier um eine "Elchwiese" handeln könnte, denn die Birken, die hier zuhauf wachsen, sind Leckerbissen für den König des Waldes, als ich auch schon zwei Jungtiere erblicke. Sie tun sich vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt an den jungen saftigen Trieben gütlich.

Ich glaube, an den Tieren des Waldes in freier Wildbahn werde ich mich nie satt sehen können. Ich halte daher an und beobachte die beiden. Dick und rund sind sie und lassen sich nicht stören. Erst als ich vorsichtig näherkommen will, stutzt der eine, seine Lauscher spielen, aber er bleibt stehen und schaut mich nur an. Auch sein Kollege erstarrt zur Salzsäule. Wie nahe ist wohl ihre Bequemlichkeitszone? Ich komme näher und näher und eigentlich ist das nicht sehr klug, was ich hier mache, denn bald schon ist der Rückweg bei weitem länger als der Abstand zu den beiden. Und eine Elchkuh kann ganz schön wild werden, wenn man sich allzu sehr für ihr Junges interessiert. Aber diese beiden hier ziehen sich zurück. Wie auf Kommando drehen sie sich um und staksen mit ihren langen Beinen davon.

Lustige Kanutour auf dem spannenden Råneälv

In Valvträsk wartet bereits Håkan mit dem Kanu auf dem Dach seines VW Golf Combi. Er sieht aus wie ein Wikinger mit seinen langen blonden Haaren und ist wildnismässig in braunen Drillich gekleidet. Er erklärt mir kurz die Strecke, die er für heute geplant hat, dann fahren wir an die Ausgangsstelle. Dort lassen wir mein Auto stehen und mit seinem fahren wir weiter.

Wir haben eine kurze Tour vor, die uns über einige Stromschnellen führen soll. Das passt mir ganz ausgezeichnet, denn es ist immer gut, wenn man mit einem Profi unterwegs ist, denn ein bisschen was kann man immer dazulernen. Und Håkan ist ein Profi. Das merke ich nicht zuletzt an seiner ruhigen Art, wie er seine Worte wählt.

Trotz seiner jungen Jahre, er dürfte noch keine dreissig sein, strahlt er eine Ruhe aus, wie sie nur die Erfahrung und ein gesundes Selbstvertrauen mit sich bringt. Und der Umgang mit reichen Leuten. Denn Håkan organsiert "Wildnisabenteuer" für Firmen, also Incentive und solche Sachen, mit denen Firmen sich bei ihren verdienten Mitarbeitern vom Starverkäufer aufwärts für deren selbstlosen Einsatz erkenntlich zeigen.

Und wenn sich dann so ein Supermanager in der Natur anstellt wie der erste Mensch und klein wird wie ein Zwerg, naja, dann wächst natürlich das Selbstvertrauen derer, die sie führen. Irgendwie logisch.

Håkan hat also schon viele Kunden geführt. Seine Ausrüstung ist tiptop in Schuss. Das Angelzeug ist in einer Plastikhülle, die wiederum bequem an einem Riemen um die Schulter getragen werden kann. An der Schwimmweste baumelt ein kleines Messerchen, sie ist zugleich eine kombinierte Anglerjacke mit hunderttausend Taschen.

Das Kanu ist ein Coleman outback, was mich freut und wieder beweist wie serviceminded Håkan ist, denn meine Firma heisst ja auch outback.

RåneälvIn Aspliden, wo wir unsere Paddeltour starten, ist der Fluss ganz ruhig, fast wie ein See. Recht tief und ich bin froh über meine Schwimmweste. Es gibt übrigens einen hervorragenden Paddelführer für den gesamten Rånefluss, wo jeder einzelne Flussabschnitt eingezeichnet ist und erklärt wird. Auch die Stromschnellen sind eingezeichnet und bewertet. Hier im Oberlauf ist von Stromschnellen keine Spur. Ein paar weisse Wölkchen spiegeln sich im Wasser, rechts und links erstreckt sich kilometerweit der Wald.

Håkan erklärt mir die Paddelschläge. "Die Hand, die am Griff liegt, wird in Stirnhöhe nach vor geführt, dann stichst du das Paddel ein und ziehst kräftig durch", höre ich seine Stimme hinter mir. Leichte Missbilligung schwingt mit, denn ich habe, im Vertrauen darauf, dass der Fluss mir die Arbeit abnimmt, das Paddel mehr pro forma ins Wasser gehalten. Doch hier ist Arbeit angesagt. Ich tue, wie Håkan sagt und so ziehen wir ein wenig schneller durchs Wasser. Bald schon finden wir unseren Rhythmus und ich entspanne mich und fange an zu geniessen.

Eigentlich gibt es nichts Schöneres als eine Paddeltour. Du sitzt mehr oder weniger bequem, brauchst nichts zu schleppen, siehst enorm viel und wenn du hungrig wirst, legst du an, machst ein Feuer, isst etwas und dann schlägst du an einem schönen Plätzchen dein Zelt auf und schläfst zufrieden einem neuen Tag voller Abenteuer entgegen.

In einer Bucht des Flusses kurz vor der ersten Stromschnelle legen wir an. Håkan packt die Angel aus und fragt beiläufig, ob ich denn viel angeln würde. Beschämt muss ich verneinen, denn Angeln ist nun wirklich nicht mein Sport. Ich halte es auch gar nicht für einen Sport, obwohl ich mich jetzt wahrscheinlich als ganz untypischer Nordlandfan outen werde.

Ich habe zwar schon ein paar mal eine Angel in der Hand gehalten, auch schon am Dalälven Fliegenfischen versucht, aber es ist bis jetzt immer beim Versuch geblieben.

Doch Håkan ist so stolz auf sein Angelgerät, dass ich ihm den Spass nicht verderben will und mich brav hinstelle und die Angel nach seinen Anweisungen auswerfe, und dann wieder einhole, und wieder und wieder. Dabei ist es sicher zu heiss zum fischen und der Hecht grundelt irgendwo am Boden herum und kümmert sich nicht um meinen Köder. Während ich mich solcherhand amüsiere, spaziert Håkan den Fluss entlang und inspiziert die Stromschnelle. Stromschnelle ist vielleicht zu viel gesagt, das Wasser kräuselt sich und einige Wellen künden von verborgenen Steinen.

"Na, was ist, packen wir's?" fragt er, als er zurückkommt. Klar packen wir's. Ich will doch nicht das Kanu durch den Wald tragen. Håkan wäre nicht der gute Führer, würde er nicht pädagogisch fragen, wie ich die Stromschnelle angehen würde. "Naja, das ist klar, dort drüben fliesst der Strom schneller und hier herinnen lauern hinterlistige Steine. Vielleicht in der Mitte?"

Håkan lächelt. Freundlich. Nachsichtig, wie der verständnisvolle Lehrer einem seiner minder begabten Schüler zulächelt: "Siehst du das V, das der Strom bildet?" Ich sehe kein V. Erst auf ein Handzeichen sehe ich, dass sich die Wellen wirklich zu einem V verjüngen. "Immer genau in dieses V, also auf die Spitze des V mit dem Kanubug hinhalten, dort sind zwar oft Wellen, aber die sind nur Wasser, dort sind keine Steine," erklärt er.

Passt, das ist sicher eine enorm nützliche Information. Vorsichtig nehmen wir Platz, denn hier ist der Fluss ganz schön tief, dann legen wir ab und halten auf das V zu. "Paddeln, paddeln". Schwupp, es schaukelt ein bisschen und schon sind wir durch. Lobende Worte von der Rückbank, ich weiss zwar nicht wofür, aber freue mich trotzdem.

Kurze Zeit später kommen noch mehrere Stromschnellen. Jetzt gehen wir gemeinsam rekognoszieren. Das sollte man immer tun, denn auch wenn man einen Fluss kennt, so herrschen doch nie die gleichen Bedingungen. Einmal ist viel Wasser, dann wieder wenig und so ist es immer gut, wenn man Stromschnellen vorher anschaut. Anlegen, Kanu heraufziehen, anschauen, geht es oder nicht? Meistens geht es, V suchen, drauf hinsteuern, paddeln, Augen zumachen und durch. Weisse Wellen sind stehende Wellen und ein Zeichen für tiefes Wasser, also keine Steine und somit ungefährlich.

Mich erstaunt immer wieder, wie schnell alles geht. Kaum dass das Kanu schaukelt, so rasch sind wir durch. Håkan ist geprüfter Kanuführer und er erzählt, dass die Probanden bei der Prüfung den Kukkolaforsen, eine berüchtigte und in ganz Schweden bekannte Stromschnelle am Tornefluss durchschwimmen müssen. "Damals habe ich geglaubt, mein letztes Stündchen ist gekommen," lacht er. "Du musst dir vorstellen, da liegst du auf dem Rücken, die Beine nach vor gestreckt, damit du bei den grossen Steinen nicht mit dem Kopf zuerst anstösst, das Wasser dröhnt und donnert, vor dir türmen sich die Stromschnellen haushoch auf, eine Welle taucht dich unter, du schnappst verzweifelt nach Luft, da kommt schon die nächste, es ist ein brausendes Inferno."

Später kommen wir zur grössten Stromschnelle des Råneälven, gischtend weisse Wassermassen brausen unter einer Brücke durch eine ziemlich enge Schlucht und werfen sich donnernd in einen See. Unter der Brücke sind grosse Walzen, das nennt man so in der Fachsprache, wenn sich das Wasser in sich selber gegen die Fliessrichtung dreht. "Hier bist du runter?" "Ja, aber nur einmal," meint Håkan. Meine Achtung steigt. Na, dann traut er sich schon etwas.

ValvträskNach dieser zweiten Stromschnelle kommen wir zum See Valvträsk. Das ist ja das Schöne an den nordischen Flüssen, sie verbreitern sich immer wieder zu Seen. Wir steuern auf eine bewaldete Insel zu, ein kleines Häuschen leuchtet rot zwischen den hellen Kieferstämmen hervor. Hierher kommt Håkan mit seinen Kunden und es wird gegrillt. Genau das wollen wir auch machen.

Wir legen an, ziehen das Kanu zur Hälfte aus dem Wasser, ich mache ein Feuer, während Håkan vier Saiblinge aus den tiefen seines Rucksacks zaubert. Ein bisschen Salz und Pfeffer, ein Hauch von Thymian, mehr braucht es nicht, meint er. Håkan ist auch ausgebildeter Wildkoch. Fladenbrot, mit Tomatenmark rot gefärbt, es gibt auch grünes von Spinat, dient als Teller.

"Den Fisch auf geringer Hitze langsam grillen, dann schmeckt er am besten und bleibt schön saftig. Bei zu hoher Hitze wird er aussen hart und bleibt innen roh," erklärt er. Er kocht ebenso gut wie er paddelt. Fachmännisch zerteilt er den Fisch und legt kleine Stücke davon aufs Brot, das wird eingerollt und genossen. Der Fisch zergeht auf der Zunge. Ein echter Leckerbissen!

Danach paddeln wir zu unseren Autos zurück. Immerhin, so kurz der Ausflug mit Håkan war, von der Paddeltechnik bis zum Verhalten beim Kentern - auf den Rücken legen, Beine nach vor, bis zum Saiblinggrillen habe ich in den knapp vier Stunden gelernt. Ein Schnellkurs im Wildnislebensstil.

Beim zurückfahren kann ich mich noch schnell revanchieren, als plötzlich aus dem linken Vorderrad von Håkans Auto die Luft entwicht. Ruckzuck wird der Reifen gewechselt und wir fahren flussabwärts zu dem Hüttchen, wo ich diese Nacht verbringen werde.

Menschen am Fluss

Hier in Överstbyn hat Åke Selberg auf einer Halbinsel am Strand des Råneflusses mehrere Hütten gebaut. Eine Schlafhütte steht da, eine Sauna und ein Plumpsklo mit zwei Plätzen, damit man sich unterhalten kann. Vor den Hütten befindet sich eine grosse gemauerte Feuerstelle, wo bald schon ein lustiges Feuer flackert. Håkan zeigt mir noch vorher erwähnte waghalsige Stromschnelle und dann verabschiedet er sich. Er fährt mit seiner Frau und seiner drei Monate alten Tochter in sein Sommerhäuschen am Tornefluss - fischen.

Ich mache einen kleinen Spaziergang und als ich zurückkomme sitzt Åke Selberg bereits am Feuer und kocht Kaffee in einer kleinen arg verrussten Kanne. Åke ist ein vierschrötiger Hüne von einem Mann, um die sechzig, einen Lederhut verwegen ins Gesicht gedrückt, ähnelt er Jock aus der Fernsehserie Dallas.

Ruhig und bedacht, mit einer Ausstrahlung, wie sie nur Körperstärke, Besitz und lange Ausübung von Macht verleihen. Åke war bis vor kurzem Abgeordneter im schwedischen Parlament und hat sich erst vor kurzem beurlauben lassen. Er ist jovial und erzählt gleich frei von der Leber weg.

Von Göran Persson, seinen Reichstagskollegen, gemeinsamen Erlebnissen und beleuchtet vor allem die menschliche Seite der Leute, die man sonst nur aus der Zeitung und den Medien kennt. Åke ist ein guter Erzähler und die Zeit vergeht im Flug. Nach einiger Zeit gesellt sich sein Sohn zu uns, gefolgt von seiner Frau und zwei kleinen Mädchen, die müde sind nach einem Tag auf dem See. Sie waren fischen. Es ist Sommer, Ferienzeit, Urlaubszeit.

Råneälv Machen wir eine kleine Runde auf unserem See, meint Åke. Deine Sachen legst du gleich in die Hütte." Im Plastikboot mit Aussenbordmotor dreht Åke ordentlich am Gashebel und wir fliegen gleich so übers Wasser. Auch hier hat sich der Rånefluss verbreitert und mehrere kleine Seen gebildet. Hin und wieder stehen kleine Häuser am Ufer. Åke weiss zu jedem Haus und zu jedem der Bewohner eine kleine Geschichte. Da wohnt ein Eishockeycrack, dort ein Verwandter.

Åke ist hier geboren und hat seine Kindheit hier verlebt. Er ist mit der Natur verwachsen. Es wäre ihm nie im Leben eingefallen, nach Stockholm zu ziehen, trotzdem er dort die letzten zwanzig Jahre tätig war. "Ich bin brav jedes Wochenende nach Hause geflogen und am Montag in der Früh wieder nach Stockholm gefahren", erklärt er stolz.

Åkes Haus liegt auf der meiner Insel gegenüberliegenden Seite des Flusses. Eine Strasse gibt es erst seit den Siebzigerjahren. Früher musste man mit dem Boot zur Schule rudern oder im Winter über den gefrorenen See mit den Schiern laufen.

Dafür ist heute der Hof voll modern. Trotzdem Åke eigentlich sein Otium geniessen könnte ist er voller Ideen und Tatendrang. So hat er eine Firma gegründet und stellt Lappenzelte, also die typischen Indiandertipis her, sein Sohn hilft ihm dabei. Eine riesige Schweinezucht hat er auch schon gehabt und edle Kanus aus Holz gebaut.

"Der Mensch kennt keine Grenzen. Grenzen sind nur ein Mangel an Phantasie" ist sein Wahlspruch. Grosszügig wie die Nordländer nun einmal sind, lädt er mich zum Essen ein. Anna Greta steht an der Tür und auch hier ist die Ähnlichkeit mit Dallas unverkennbar. Ruhig und freundlich zuvorkommend und diskret um den Gast bemüht wie Miss Elly. Im Haus sind andere Gäste, Töchter mit Anhang, Verwandte, Bekannte, es ist ein ständiges Kommen und Gehen.

Der Sommer macht wirklich alles wett, was im harten und langen Winter den Menschen hier die Einsamkeit bringt. Im Sommer blühen sie auf und sind quicklebendig und alles redet und lacht durcheinander. "Das hat bei uns Tradition," meint Åke, "das war schon so, als meine Eltern noch gelebt haben. Bei uns ist es zugegangen wie in einem Wirtshaus, immer waren Gäste da."

Das Angeln nimmt einen wichtigen Platz ein im Leben der Menschen hier am Fluss. Åke kommt mit einem Echolot daher und auch mit einem völlig neu entwickelten Ding, einer Art Kamera, die in das Wasser hinuntergelassen wird und auf einem kleinen Schirm sieht man die Fische in er 25 Meter Tiefe. "Für dieses Insrument habe ich die Rechte gesichert", erklärt Åke.

Auf dem Weg zurück zu meiner Hütte kommen wir an einem älteren Par vorbei, das in einem kleinen Boot sitzt und trotz der späten Stunde angelt. "Das sind unsere kleinen Freuden", meint Åke. Trotzdem wir uns nur ein paar Stunden getroffen haben, habe ich das Gefühl, mich von einem guten Freund zu verabschieden. So herzlich sind die Flussbewohner des Råneflusstals.

In der Hütte hole ich zunächst einmal die leere Bierdose in die Ulf, ein Schwiegersohn Åkes, ein Loch geschnitten hat für ein Teelicht, stelle sie auf den Tisch, entzünde das Teelicht und lege eine Tablette, die mir vorsorglich von Anna Greta in die Hand gedrückt hat, als sie von meiner Mücken geschwängerten letzten Nacht hörte, auf die Oberfläche der Dose.

"Das hilft, den Geruch mögen die Mücken nicht", meinte sie. Es stimmt, diese Nacht verbringe ich ruhig wie in Abrahams Schoss und erwache frisch und ausgeruht ohne einen einzigen Mückenstich und ohne Gesurre im Ohr. Erst als ich mir die Verpackung genauer ansehe, komme ich drauf, dass eine italienische Firma diese Tabletten herstellt. (sterminio extra, mit "grande eficacio", also die grosse Wirksamkeit kann ich bezeugen). Eine Tablette hält die gute Stube eine ganz Nacht lang mückenfrei.

Auf den Hund gekommen

In Överstbyn folge ich einem Tip von Håkan und besuche Lars-Ola und seine Frau Britt Marie im "Vildmarksgården". Lars Ola ist nicht irgendwer, sondern mehrfacher schwedischer Meister im Schlittenhundefahren. Er hat so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt und hat sicher erst letzten Winter vom Hochleistungssport zurückgezogen.

Lars Ola baut gerade. Das Bauen scheint überhaupt zu den liebsten Beschäftigungen der Menschen am Fluss zu zählen. Wo man auch hinkommt, überall wird fleissig gewerkt. Lars Ola baut eigenhändig eine Hütte für seine Hundeschlitten. Die Stämme hat er im Wald gefällt, entrindet, entästet auf die richtige Länge geschnitten und jetzt baut er sich in alter Holzbautechnik zuerst einen Stall für seine Hundeschlitten, dann ein neues Haus.

Auf seinem Grundstück, das direkt an den Wald grenzt, flackert bereits ein gemütliches Feuer, wo Britt Marie Fische räuchert und wir nehmen Platz und lassen uns ein paar geräucherte Saiblinge schmecken. Lars Ola macht einen extrem energischen Eindruck. Der ganze Mann ist ein Energiebündel. Seine Augen blinzeln vergnügt und seine Energie scheint auch die Umgebung anzustecken. Alles vibriert gleichermassen.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, welch enormer Siegeswille diesen Mann angespornt hat und wie dieser Wille sich auf seine Hunde übertragen hat. "Ich habe alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, und dann habe ich mir gedacht, ich trete besser jetzt ab als wenn ich zu verlieren anfange", erklärt er. Dabei ist er noch jung. Schaut aus wie dreissig ist aber doch schon an die vierzig.

Es ist interesant wie es immer den Bewohnern von Orten und Tälern überlassen bleibt, aus ihrer Heimat etwas zu machen. Sicher, der staat oder die EU kann durch Förderungen unterstützend eingreifen, doch einen beschaulichen Ort mit dem ausstatten, was der Gast braucht, und vor allem, diese Gäste dann zu verwöhnen und wohlfühlen lasen, das kann nur der Mensch. Lars Ola und Britt Marie haben grosse Pläne. Beide sind sich bewusst, dass hier in Överstbyn an Übernachtungsmöglichkeiten mangelt, denn in Åke Selbergs Hütte kriegen ja gerade 4 Mann Platz.

Daher wollen sie hier auf ihrem "Vildmarkshof" eine Art Gasthof aufziehen, wo der Reisende Unterschlupf findet für einen Tag oder eine Woche ihn verköstigen und so en passant auch mit den Hunden bekannt machen. Ich werde spontan auf geräucherte Saiblinge Salat und das berühmte nordische Fladenbrot eingeladen, wir sitzen im Freien und schauen über die blumenübersäte Wiese und dahinter den schweigenden Wald. Mit fällt auf, dass die Hunde nicht ein einziges Mal gebellt haben. "Das ist nur eine Erziehungssache," Meint Lars Ola, "das war auch sicher einer meiner Vorteile am Start, wenn meine Hunde völlig ruhig dagestanden sind während sich die Konkurrenten gegenseitig verrückt gemacht haben".

Toll, wie dieser Mann an alles denkt und in Britt Marie sein ruhiges Pendant gefunden hat. Seit 25 Jahren sind die beiden nun schon verheiratet und noch immer sehen sie sich liebevoll an und versuchen sich gegenseitig jeden Wunsch von den Augen abzulesen. So kann sich Lars Ola denn auch nicht halten und meint zu mir: "Sind die Fische nicht hervorragend? Ich finde, es gibt niemanden, der Britt Marie in der Kunst des Fischeräucherns übertrifft". Ich kann ihm nur zustimmen.

Interessant ist auch, wie die Kinder der Menschen hier heroben an der Grenze zur Wildnis gefordert werden. So ist der älteste Sohn von Bernhard und Diana Zimmer nordschwedischer Meister im Florettfechten und Lars Olas und Britt Maries Sohn ist ein hervorragender Karatekämpfer. Dabei wird den Kindern absolut nichts geschenkt: zur Schule müssen sie nach Boden, das ist etwa 50 km entfernt und die Volksschule von Överstbyn wird überhaupt in Ermangelung an Schülern nur zweiklassig geführt.

Wieder bestätigt sich meine Theorie, wonach der Mensch mit der Aufgabe wächst, soferne er nur richtig motiviert ist. Nur ungern verlasse ich das gastliche Haus von Lars Ola und Britt Marie und im Rückspiegel blicke ich noch lang zurück auf die zwei Figuren, die immer kleiner werden und dann wieder an die Arbeit gehen. Es muss noch so viel gebaut werden ehe der harte winter kommt.

Malmens Väg

Malm ist das Erz und Malmens Väg ist der Weg, den das Erz von den Fundstellen in Gällivare Malmberget genommen hat um an die Küste zu gelangen, wo es verarbeitet wurde. Den Transport des Erzes war von Anfang an der samischen Bevölkerung übertragen worden, die mit ihren Rentieren und ihren Akkjas, also Rentierschlitten, diese Aufgabe gern übernahmen. Auf diesem Malmens Väg wurde Erz von Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Bau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Dann fiel der Weg der Vergessenheit anheim, bis ein paar findige Köpfe und enthusiastische Motorschlittenfahrer auf die Idee kamen, den Malmens Väg als Skoterpfad zu neuem Leben zu erwecken.

Einer dieser Männer ist Hans Lidberg. Er erwartet mich in Niemisel einem kleinen Ort ein paar Kilometer südlich von Gunnarsbyn. Hans ist ein lustiger Mann mit Kinnbart, mittelgross und einem ansteckenden, fröhlichen Lachen. Er war früher bei der Eisenbahn, hat sich aber dort beurlauben lassen um sich um den Malmens Väg zu kümmern. Man glaubt gar nicht, was es da alles zu tun gibt: Schilder wollen gemalt und aufgestellt werden, der Weg muss frei gehalten werden vor lästigem Baumbewuchs, nach dem ersten Schnee muss die Spur präpariert werden mit einem Pistengerät und, als Höhepunkt, die frühere Umladestation "Spiken" ist in Schuss zu halten.

Zu dieser Umladestation sind wir jetzt unterwegs. Auf dem Weg erzählt Hans Lidberg wie das Erz von Samen gefunden wurden, die ein paar Erzproben dem Pehr Andersson zeigten. Pehr Andersson gilt somit als Entdecker des Erzes. Doch erst einem guten Freund seines Sohnes Anders war es vergönnt, etwas aus diesem Funden zu machen. Carl Johan Thingwall steckte sich einen Calim ab. Nur fehlte ihm das Geld, um seinen Claim auch wirklich zu bearbeiten.

Daher verkaufte er seine Rechte An Abraham Steinholtz und Jonas Meldercreutz. Letzterer schliesslich blieb es überlassen, den Erzabbau und seine Verarbeitung so richtig anzukurbeln. Meldercreutz gründete eine Reihe von Orten entlang dem Malmens Väg, er kümmerte sich um den Erzabbau, den Transport und schliesslich gründete er auch eine Erzröstanlage im Ort Råneå. Nebenbei war er noch Offizier in Stockholm und später wurde er Professor für Mathematik an der Universität Uppsala.

Nachfolger Meldercreutz' war Samuel Gustav Hermelin. Hermelin war eigentlich Kartograph und ist der erste der eine umfassende Karte über das Lappland und Västerbotten erstellt hat. Hermelin ist vielleicht derjenige, der sich am meisten um die "Kolonisierung", das vor allem als Kultivierung des Nordens verdient gemacht hat.

Spiken wurde also von Jonas Meldercreutz angelegt und ist die beste heute erhaltene Umladestelle des Erzes. Die Rentierzüge der Samen kamen hierher, verluden das Erz auf die Pferdeschlitten der Bauern, bleiben wohl eine Nacht und machten sich dann auf den kilometerlangen Rückweg. Diesmal waren ihre Akkjas mit Naturlaien wie Mehl, Salz, Tabak und Silber beladen. Die Bauern erhielten ihren Fuhrlohn in Form von Kupfermünzen.

Spiken hat zwar bis heute keinen Strom, doch ist das Wohnhaus zu einem modernen Gebäude mit mehr als zwanzig Betten aufgerüstet.

Spiken wird im Sommer an Sportangler vermietet die im kleinen Flüsschen Spikälven ihr Glück versuchen. Im Winter wohnen natürlich die Skoterfahrer hier und im Herbst die Elchjäger, wenn die Wälder zwei Wochen lang widerhallen vor den Gewehrsalven der zahlreichen Hubertusjünger.

Hans Lidberg ist ein grosser Jäger und er lässt es sich nicht nehmen, mir seine Trophäensammlung zu zeigen: Geweihe jeder Grösse und man muss sagen es sind kapitale Trophäen darunter hängen an der Wand der Garage, und im Wohnzimmer sind die wirklich schönen Exemplare an die Wand genagelt. Es sind sicher mindestens zwanzig Trophäen, die hier von einem langen Jägerleben mit viel Jagdglück und reichen Elchjagdgründen erzählen. Hans freut sich, als er von seinem dreijährigen Enkel erzählt, der auf das Stichwort: "Was macht man mit dem Elch?" ein ernstes Gesicht zieht, die Arme gekonnt hochhebt und "Peng" ruft. Das freut den Grossvater, dass sein Enkel wie er ein grosser Jäger werden wird.

RåneälvDas Råneflusstal ist somit ein gutes Beispiel dafür, dass es in unserer überzivilisierten Welt immer noch Stellen gibt, wo der moderne gehetzte, stressbeladene Mensch seine himmlische Ruhe findet. Hier haben die ortsansässigen Bewohner des Tales gelernt, mit der Natur zu leben und werden sich erst langsam bewusst, welchen Schatz sie damit besitzen. Jetzt gilt es, schonend und langsam diesen Schatz anderen Menschen zugänglich zu machen. Bisher ist es den Menschen im Råneälvtal gelungen, die Natur intakt zu halten und genau das zu bewahren, wonach der moderne Gast verlangt: Ruhe, Einklang mit der Natur und auch eine gewisse Härte zu sich selbst - denn erst im Kampf mit den Mücken zeigt sich der wahre Held!

Anreise: Malmö - E4 - Stockholm - E4 - bis Råneå dann den Fluss entlang.


Nützliche Adressen:

Nordguide
Håkan Landström
Parkvägen 10 B
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel: 0046 70 600 53 03
nordguide@ranealvadal.com

Nattavaara Heimatverein (Hütten)
Box 38
S-982 07 Nattavaaraby
Tel. 0046 970 410 20
Ntv.hbf@beta.telenordia.se
http://www.lapplandsinfo.nu/nattavaara/
http://www.torget.se/users/v/venet/

Råne Älvdals kansli
Parkvägen 10 B
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel: 0046 924 213 65
Fax. 0046 924 213 66
www.ranealvdal.com
www.malmensvag.com

NordCraft (Lappentipis)
Selbstversorgerhütte in Överstbyn
direkt am Rånefluss
Åke Selberg
Nyvägen 3
S-961 97 Gunnarsbyn
Tel. 0046 924 211 72
Fax: 0046 924 211 20
Handy: 070 537 82 09


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Last Updated: Donnerstag, 4. September 2008
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