Auf dem Tannenreisig liegen Rentierfelle und auf
diesen breite ich meinen Schlafsack aus. Jetzt noch
einmal ordentlich Holz aufs Feuer gelegt und dann
werde ich die Polarnacht wohl gut überstehen.
Naja, so ganz wie ich mir das vorgestellt hatte,
ist es nun ja nicht gerade, einige Male muss ich
Holz nachlegen, weil es auch auf Rentierfellen kühl
wird, aber schlafen tut man gut und tief an der
frischen Luft. Bei einem Blick vor die Tür
kann ich verfolgen, wie das Nordlicht in Kaskaden
gigantischer Wasserfälle aus Neonlicht über
den Himmel zieht.
Am
nächsten Tag um acht bin ich mit Carl Gustaf
verabredet. Carl Gustaf ist Rentierhalter, besitzt
also eine Menge Rentiere und lebt von der Rentierzucht
wie schon seine Vorfahren. Wir werden gemeinsam
nach Maskaure fahren, das ist ein Platz, wo die
Samen ihre Rentiere zusammentreiben und Herden in
Ordnung bringen. Denn jedes Samendorf besteht aus
mehreren Familien und jedes Dorf hat seine eigenen
Weidegebiete, die durch oft kilometerlange Zäune
oder natürliche Hindernisse wie Bergketten
oder Flüsse voneinander getrennt sind.
Dieses
Vorhaben nennt man "renskiljning" also
Rentierscheide. Allen Nordlandfahrern wird im Sommer
der kreisrunde "Korral" aufgefallen sein,
den man an vielen Orten meist leer, weil ja im Sommer
die Rentiere in den Fjälls auf Sommerweide
sind, vorfindet. Nun, so ein Korral wird für
dieses Rentierscheide und benutzt.
Pünktlich
um acht stehe ich vor der Tür meines Blockhauses,
angetan mit den wärnsten Sachen, die ich überhaupt
besitze. Daunenparka mit Kapuze, Pelzmütze,
Lodenhose, Überhose und vor allem die beim
Skoterfahren bewährten warmen Stiefel, den
Moonboots ähnlich, wie sie früher beim
Apre Ski modern waren.
Auf
dem Weg nach Maskaure erzählt Carl Gustaf ein
bisschen was aus seinem Leben. Im Unterschied zu
den ziemlich ruhigen Vertretern seiner Rasse ist
Carl Gustaf eloquent und munter. Die Samen sind
von den Schweden nicht nur von der Statur her verschieden.
Sind die meisten Schweden stattliche Männer
von ziemlich weit über einsachtzig so sind
die Samen von der Statur her eher zierlich gebaut.
Der mongolische Einschlag wird noch durch die dunklen
Haare und hohen Backenknochen unterstrichen, auch
haben viele Samen braune Augen.
Carl
Gustaf hat sein Leben lang in Einklang mit seinen
Rentieren, verbracht. Sein Jahr ist völlig
auf den Bedarf der Tiere ausgerichtet. Im Sommer
werden die Rentiere ins Fjäll getrieben und
im Winter in die küstennahen Wälder, wo
sie im Wald von Flechten leben, die von den Bäumen
herunterhängen. Diese Flechten heissen denn
auch "Renlav" und sind bezeichnend für
gesunde Wälder und vor allem alten, naturbelassenen
Baumbestand.
Vorsichtig
chauffiert Carl Gustaf sein Gefährt auf der
Schneefahrbahn. Es ist ihm anzumerken, dass er sich
auf dem Skoter, also dem Motorschlitten sicherer
fühlt als im Auto. Als wir an einem zugefrorernen
See vorbeikommen, erinnert ihn der Anblick an einen
der schlimmsten Augenblicke seines Lebens.
IM
EIS VERSUNKEN
"Letztes
Frühjahr war ich hier mit dem Motorschlitten
unterwegs. Es herrschte dichter Nebel und das Eis
war schon ziemlich dünn. Mitten auf dem See
merke ich plötzlich wie das Eis unter mir nachgibt
und wie der Schlitten langsam, langsam, zu sinken
beginnt."
Carl
Gustafs Stimme merkt man die Erregung an, die ihn
damals in Todesangst versetzt hat.
"Der
Nebel hat mich wie dicke, undurchdringliche Watte
eingehüllt und trotzdem ich schrie, um mein
Leben schrie, verhallten meine Schreie ungehört
und mit jeder Sekunde versank mein Schlitten tiefer
im Wasser. Nach kurzer Zeit sass ich bis zu den
Hüften im eiskalten Wasser. Ich konnte überhaupt
nichts machen, war wie gelähmt, wie im Zeitraffer
beobachtete ich mich selbst umgeben in diesem unwirklich
anmutenden Nebel.
"In letzter Verzweiflung brüllte ich den
Namen meines Sohnes hinaus. Der kam, als mir das
Wasser buchstäblich bis zum Hals stand und
hat mich herausgezogen. Der Motorschlitten war weg.
Aber ich habe überlebt."
Ein
paar Wochen im Krankenhaus war die Folge dieses
unfreiwilligen Bades und heute, fast ein Jahr später,
fühlt sich Carl Gustaf noch immer nicht auf
dem Damm.
"Es
ist komisch, an einem Tag fühle ich mich pudelwohl
und schon am Tag drauf komme ich nicht aus dem Bett",
fasst er seinen Zustand zusammen.
AUF
DEM RENTIERSCHEIDEPLATZ
Unter
solchen Gesprächen und Gedanken erreichen wir
den Rentierscheideplatz. Hier stehen bereits eine
Menge Autos auf dem Parkplatz, die meisten mit Anhängern,
um Rentiere, die sich zu einer fremden Herde verirrt
haben, gleich mitzunehmen.
Die
Luft vibriert, sie flimmert von Millionen kleiner
Schneekristalle, die von den Hufen der Tiere aufgewirbelt
werden. Ein Geruch nicht unähnlich dem Pferdeschweiss
liegt wie eine Dunstglocke über dem Schauplatz
des Geschehens. Der Korral ist voller Rentiere,
es mögen fünfhundert, ja vielleicht sogar
an die tausend sein, die hier im Kreis getrieben
werden.
Mitten
drinnen in diesem rasenden Inferno stehen Männer
und Frauen, jeder mit einem Lasso in der Hand und
halten mit scharfen Auge Ausschau nach den Tieren
mit der eigenen Kennung im Ohr. Mir ist unerklärlich,
wie die Leute diese kleinen Schnitte erkennen können.
Wir
drängen uns zwischen den Tieren durch. Das
ist leichter als es sich anhört, denn die Rentiere
weichen mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit
den Menschen aus. Trotz ihrer riesigen Geweihe und
ihrer grossen Zahl auf kleinem Platz kommt es nicht
einmal zu einer Berührung.
Auch
Carl Gustaf hat ein Lasso mitgebracht und späht
jetzt mit zusammengekniffenen Augen in die für
mich alle gleich wirkenden Tiere. Er hat auch bereits
eines als seiner Herde zugehörig identifiziert,
ein kurzes Wirbeln des Lassos, ein Wurf und schon
stemmt sich der zierliche Mann mit all seiner Kraft
gegen das Gewicht des Tieres, das versucht, das
lästige Hindernis, das so ein Strick mit einem
daran hängenden Menschen ausmacht, abzuschütteln.
Vergeblich.
Das
Lasso kann sich entweder im Geweih verfangen oder
wird durch eine geschickte Bewegung der Hand während
des Wurfs auf dem Boden aufschlagen und sich dann
um die Vorder- oder Hinterläufe des Tieres
schlingen. Mit vereinten Kräften wird das Rentier
unter Mithilfe anderer Samen zu einem Aufkäufer
geschoben, der mit lauter Stimme Namen und Art des
Tieres ruft, was seine Sekretärin penibel auf
Papier festhält.
Das
Rentier wird dann in einen kleineren Korral geschoben
und das nächste Tier wird aus der Menge herausgesondert.
Ich stelle mich ganz nahe neben Carl Gustaf auf
und versuche, seinem Blick zu folgen.
"Jeder
Rentierhalter erkennt sein Tier auf einen Blick",
meint er. "Das ist eines der ersten Dinge,
die du lernst. Von klein auf. Dein eigenes Zeichen
zu kennen ist wichtiger als Lesen und Schreiben."
Und schon wirbelt das Lasso wieder durch die Luft.
Doch diesmal ist das Tier schneller, nur um bei
der nächsten Runde eingefangen zu werden.
Mir
wird ob so viel kreisförmiger Aktivität
schwindlig und ich verlasse den Zauberkreis. Auch
rund um den Korral ist Aktivität. Rentiere
werden auf riesige Lastwägen verladen, Samen
verhandeln über den Preis eines Rentieres,
und Frauen kochen gemütlich Kaffee am offenen
Feuer.
Als
ich um einen der Lastwagen herumgehe, bleibe ich
erstaunt stehen. Mein Blick fällt auf ein Gerüst,
an dem drei eben geschlachtete Rentiere hängen.
Zwei Männer ziehen ihnen seelenruhig das Fell
über die Ohren. Es geht ruhig und professionell
zu.
IM RENTIERLAND
Ich
marschiere wieder zurück zum Korral, da kommt
mir schon Carl Gustaf entgegen. Er hat die Arbeit
seinen Söhnen überlassen und sucht jetzt
einen geeigneten Platz für ein kleines Lagerfeuer.
Ein windgeschützter Platz ist hinter einer
Schneewächte gefunden, dann wird die Axt hervirgeholt
und ein Holzstock zerkleinert.
Mit
dem Messer werden Späne geformt, auf einen
Haufen geschichtet, mit Flechten statt Papier wird
das Feuer entzündet und schon nach nicht einmal
fünf Minuten flackern die Flammen auf. Carl
Gustaf rollt ein ungegerbtes Rentierfell aus und
wir lassen uns nieder.
"Hungrig?"
fragt er und auf mein Nicken holt er aus den unergründliches
Tiefen seines Rucksacks eine Bratpfanne und einen
Sack mit Rentierfleisch. Butter wird in die Bratpfanne
geschnitten, Rentiergeschnetzeltes dazugemengt und
schon nach kurzer Zeit brutzelt das Fleisch über
dem Feuer und verbreitet einen verführerischen
Duft..
Ein
Glas mit Preiselbeermarmelade wird geöffnet
und schon setzt ein Schlemmen an, das seinesgleichen
sucht. Keine Frage, die Samen verstehen zu leben.
Im Rentierland gibt's Rentierfleisch. Und wenn man
das nicht jeden Tag hat, so wird es zur Delikatesse.
Das Fleisch ist fettarm und wird von Feinschmeckern
dem Elchfleisch vorgezogen, da es nicht so faserig
ist, also viel zarter.
Während
wir noch geniessen, hängt Carl Gustaf den Kaffeekessel,
der schon ganz schwarz vom oftmaligen Gebrauch ist,
an einem Stock übers Feuer, binnen kurzem kocht
das Wasser, Kaffee wird dazugegeben, noch einmal
aufgekocht, der Kessel wird vom Feuer genommen,
damit sich der Sud setzen kann und dann gibt es
Kaffee und dazu hausgemachten Kuchen.
Wieder
habe ich Gelegenheit die Lebensqualität dieser
Menschen zu beobachten. Dieses völlig unhektische
Dasein hier heraussen in der freien Natur. Kilometer
um uns herum ist nichts. Wald, Schnee, Stille. Nur
im Korral herrscht Aktivität. Doch um uns zeitlose
Ruhe.
Irgendwie
scheint Carl Gustaf das Kunststück gelungen
zu sein, das beste aus zwei Welten in seinem Lebensstil
zu vereinen. Auf der einen Seite die Vorteile des
freien Lebens in der Natur auf der andern die sicher
angenehmen Bequemlichkeiten der modernen Zivilisation.
Für ihn ist alle Spekulation über das
moderne Leben müssig. Carl Gustaf, Rentierhalter,
hat seinen Platz im Dasein gefunden und ist's zufrieden.
4000
Seen, 8000 Einwohner, 25.000 Rentiere. Das ist Arvidsjaur.
Der winzige und doch so wichtige Ort liegt mitten
in Lappland und bildet einen Teil des sogenannten
Lappland Triangels, das sich zwischen Arjeplog, Jokkmokk
und eben Arvidsjaur erstreckt. Hoher Norden also,
doch die Anreise wird durch die Reichsstrasse 45 leicht
gemacht. Die Anreise von Stockholm per Flugzeug dauert
knappe zwei Stunden.
Informationen:
Arvidsjaur Turistbyrå
Garvaregatan 4
933 32 Arvidsjaur
Tel: +46 960 175 00
Fax: +46 960 136 87